Rezension

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Der Wald kümmert sich um die Seinen

Das Verschwinden der Sterne -

Das Verschwinden der Sterne
von Kristin Harmel

Bewertet mit 5 Sternen

Es beginnt in Berlin im Jahr 1922. Dort entführt die zweiundachtzigjährige Jerusza  aus der Wohnung der Jüttners das knapp zweijährige Mädchen Inge. Einen Tag später war der zweite Geburtstag von Inge. Das Mädchen hatte ein Muttermal in Form einer Taube auf der Innenseite des linken Handgelenks. Jerusza wusste, dass das Kind nicht bei den Eltern bleiben durfte. Genauso wie sie schon immer Dinge gewusst hatte, die andere Leute nicht wussten. Jerusza war die Letzte einer seit Jahrhunderten existierenden Linie. Sie lebte weit ab im Wald, mit und von der Natur. Ihre Gabe hatte ihr gezeigt, dass dunkle Wolken aufzogen und Unheil verkündeten. Für Jerusza war es Gott, der sie heute hierher geführt hatte, Verantwortung zu übernehmen für das Schicksal eines Kindes, und vielleicht auch ein Stück der Welt zu verändern. Jeruszas Gabe hatte ihr auch das eigene Todesdatum gesagt und so blieben ihr noch gut zwanzig Jahre, um das Kind zu lehren. Und nun verschwanden beide in der Tiefe des Waldes in die Wildnis Osteuropas.
Aus Inge wurde Jona/Yona, das war der hebräische Rufname für Taube - siehe Muttermal.
Romane aus der Feder von Kristin Harmel sind immer wieder etwas besonderes und lesenswert, gerade wenn es um die Zeit des Zweiten Weltkriegs geht. Ihr ausführliches Nachwort zeigt noch einmal auf, welche Greueltaten ausgeübt wurden. Und dann gab es da die Menschen, die wie ihr Zeitzeuge im Herzen des Nalibocka-Waldes eine Gemeinschaft aufbauten und überlebten. Die intensive Recherche, die Begegnung mit Zeitzeuge und auch Interviews der Autorin ergeben ein klares Bild um das Überleben jüdischer Flüchtlinge. Der Nalibocka-Wald ist es auch, in dem Jona ihre Rolle spielt.
Jerusza lehrt Jona alles, was sie wissen muss, um im Wald zu überleben. Sie gibt ihr Bücher, lehrt sie das Lesen und gleichzeitig auch noch etliche Sprachen. Wieder und wieder lernt Jona nicht zu lange an einem Ort zu verweilen. Diese Lebensweise schildert Harmel so klar und bildlich, dass man sich direkt vor Ort fühlt. Man spürt die Kälte des Winters, mit jedem Schritt, den du gehst-liest, senkt sich dein Fußabdruck in den Waldboden. Das könnte ich jetzt endlos aufführen.
Am Ende von Jeruszas Leben erfährt Jona ihre wahre Identität. Doch immer wieder hatten  gewisse Erinnerungen im Unterbewusstsein ihr ein Bild von früher gezeigt. Und dann wird Jona selbst mit den Gräueltaten gegenüber den Juden konfrontiert. Dies geschieht in einer absoluten Härte, welche mir sehr nahe gegangen sind. Auch dass sie dabei ihren leiblichen Vater kennenlernt, ändert nichts.

Diese besondere Gabe, die Jerusza besass, war mit ihr gestorben. Jerusza besass keine eigenen Kinder. Doch sie hatte Jona so herangezogen, weil sie wusste, dass das Kind etwas Besonderes war, die die zu etwas Großartigem bestimmt war.
Die Geschichte um das Überleben, der Hilfe von Jona - man muss diesen Roman lesen, um zu verstehen, was uns die Autorin erneut aufzeigen will:
"Lasst uns die Vergangenheit nicht vergessen."
Aus meiner Sicht ist der Roman "Das Verschwinden der Sterne" der bislang stärkste Roman von Kristin Harmel. Wenn du dich am Anfang fragst, warum entführt Jerusza das Kind, dann erhältst du die Anwort, wenn du diese Geschichte liest.
Zitat S. 379
"Dem United States Holocaust Memorial Museum zufolge wurden während des Krieges zwischen 2,8 und 3 Millionen polnische Juden ermordet. Das sind zwischen 84 und 91 Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung des Landes.
Denken Sie einen Moment darüber nach. Ungefähr drei Millionen jüdische Menschen wurden in einem einzigen Land ermordet.