Rezension

Die Erzählungen - und zwar alle!

Die Erzählungen, Jubiläumsausgabe - Siegfried Lenz

Die Erzählungen, Jubiläumsausgabe
von Siegfried Lenz

Bewertet mit 5 Sternen

„Denn was sind Geschichten? Man kann sagen, zierliche Nötigungen der Wirklichkeit, Farbe zu bekennen. Man kann aber auch sagen: Versuche, die Wirklichkeit da zu verstehen, wo sie nichts preisgeben möchte. In jedem Fall sind mir Geschichten immer wie Tellereisen vorgekommen, die man zur Vergeltung auslegt: weil die Wirklichkeit sich selbst unaufhörlich bestreitet, sucht man sie in kleiner Falle zu fangen und zur Offenbarung ihrer Identität zu zwingen.“ – Siegfried Lenz

Dieser Sonderband erschien anlässlich des 80. Geburtstags von Siegfried Lenz und umfasst auf 1.536 Seiten sämtliche seiner Erzählungen. Insgesamt sind es mehr als 150, ein Drittel davon lag zuvor noch nie in Buchform vor. Es finden sich somit hier sowohl die ganz bekannten Veröffentlichungen, von „So zärtlich war Suleyken“ bis „Ludmilla“ als auch die vielen Erzählungen, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind.

Meine erste Bekanntschaft mit Siegfried Lenz machte ich mit seinem Roman „Deutschstunde“. Danach las ich mehrere seiner Erzählungsbände und war mehr und mehr begeistert. Für mich hat er eine unnachahmliche Art, mit Sprache umzugehen – das bewundere ich sehr. Als dieser Band mit sämtlichen Erzählungen erschien, habe ich ihn mir gleich geleistet und es nicht bereut.

Eine meiner Lieblingserzählungen möchte ich kurz anreißen. Es ist die Erzählung „Ein geretteter Abend“. Sie ist Marcel Reich-Ranicki gewidmet, Siegfried Lenz schrieb sie zu dessen 70. Geburtstag. Bekannt ist sie auch unter ihrem Erstdrucktitel „Der große Zackenbarsch“.
Diese Erzählung spielt an einem Abend in einer VHS. Deren überaus engagierter Direktor hat eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen. Es ist nun der erste Abend und der Andrang ist enorm: Zehn Minuten vor Beginn ist der große Vortragssaal voll und das Publikum wartet gespannt auf den angekündigten Redner zum Thema „Scharfrichter oder Geburtshelfer – Über das Wesen literarischer Kritik“. Just in diesem Moment fällt der Referent wegen einer Nierenkolik aus, ein vernünftiger Ersatz kann natürlich so schnell nicht beschafft werden. Unser Erzähler ist verzweifelt auf dem Weg zum Vortragssaal, um die große Menge von Leuten notgedrungen nach Hause zu schicken, als ihm auf dem Flur „ein zartes, eisengraues Männchen“ entgegenkommt, sich als Referent vorstellt und „bescheiden“ nach dem Weg zu seinem Vortragssaal erkundigt. Gewissermaßen als Verzweiflungstat (besser irgendein Referent als gar kein Referent) verfrachtet der Erzähler ihn in den großen Hörsaal und überlässt ihn dort seinem Schicksal. Unser Männchen ist zunächst erstaunt und dann begeistert, wie viele Hörer ihm, dem Meereskundler, bei seinem enthusiastischen „Streifzug durch ein Seeaquarium“ folgen möchten. Auch das Auditorium ist verblüfft. Aber nur kurz, denn mehr und mehr macht sich Erheiterung breit ob der vermuteten Parabel. Und in der anschließenden Diskussionsrunde ergründet man gemeinsam das juristische Prinzip im Seeaquarium…
Allein diese Erzählung kann ich immer wieder lesen. Und sie macht mir auch beim wiederholten Lesen enorm Spaß.

Im Buch findet sich zudem ein Vorwort von Marcel Reich-Ranicki und im Anhang ein alphabetisches Inhaltsverzeichnis, mit kompletten Angaben zu Erstdruck, Erstausgabe, Werksausgabe und Hörbuchausgabe jeder einzelnen Erzählung. Außerdem eine Bibliographie und eine Zeittafel zum Leben und Werk von Siegfried Lenz sowie eine Übersicht aller Auszeichnungen, Ehrungen und Preise.

Mein Fazit: Ein wunderbares Buch für jeden, der Siegfried Lenz liebt. Aber auch toll für jeden, der mal zwischendurch ein Häppchen guter Literatur möchte – denn dafür sind die Erzählungen wunderbar geeignet.

Kommentare

kommentierte am 20. Januar 2015 um 14:10

Dem Fazit kann ich zu 100% zustimmen! Ich sollte das Buch mal wieder in die Hand nehmen :-)