Rezension

Die Macht einer einzigen Entscheidung

Liebespaarungen
von Lionel Shriver

Bewertet mit 4 Sternen

Irina McGovern, Kinderbuchillustratorin, lebt seit rund zehn Jahren mit ihrem Lebensabschnittsgefährten Lawrence zusammen. Er ist ehrgeizig, erfolgreich und grundsolide. An seiner Seite erfährt Irina ein sicheres, wohlgeordnetes Leben, das in geraden, vorhersehbaren Bahnen verläuft. Das genaue Gegenteil ist Ramsey, der gemeinsame Freund, dessen Geburtstag jedes Jahr am sechsten Juli in trauter Viererrunde gefeiert wird. Er genießt als Snooker-Profi seine Freiheiten und lebt sie offen aus, ist dabei risikofreudig, wild und unberechenbar. Nachdem Jude Hartford und Ramsey Acton nach 7jähriger Ehe zwischenzeitlich geschieden sind und Lawrence in Sarajewo an einer Konferenz zum Thema Nationenbildung teilnimmt, obliegt es in diesem Jahr einzig und allein Irina und Ramsey, die gute alte Tradition zur Feier des Geburtstages fortzuführen. So kommt es, dass sich Irina mit Widerwillen an besagtem Abend mit Ramsey zum gemeinsamen Essen im japanischen Restaurant ‚Omen’ zusammensetzt. Doch die beiden unterhalten sich ausnehmend gut und beschließen, den Abend bei Ramsey zu Hause in aller Ruhe ausklingen zu lassen. Die Situation ist entspannt, bis …

Kommt es zum Kuss? Kommt es nicht? Genau dies ist der Ausgangspunkt für die Handlung des Romans. Lionel Shriver fokussiert eine einzige Entscheidung und drapiert zwei Handlungsstränge mit eben einem Unterschied darum. Der Leser kommt in den Genuss, zwei Lebensweisen zu beobachten. „Was wäre, wenn…?“ bleibt hierbei keine Frage, die offen im Raum steht. Hätte sich Irina zu einem Kuss hinreißen lassen, führte sie fortan ein Leben an der Seite Ramsey Actons.
Bliebe Irina ihrem Partner treu, führte sie ihr bisheriges Leben fort. In parallelen Erzählungen erlebt der Leser nun die jeweiligen Entwicklungen. Sehr originell ist der optische Hinweis mittels unterschiedlicher Kapitelillustration. Im vorliegenden Roman existieren fast alle Kapitel in doppelter Ausführung, dunkel oder hell hinterlegt, je nach Lebensweise. Shriver hat dabei aufmerksam bedacht, Situationen und Handlungen zu erwähnen, die sich in beiden Variationen wieder finden.
Mittelpunkt der Erzählungen ist jeweils Irina. Eine grandiose Idee, ein tolles Konzept und eine recht solide Umsetzung. Lawrence und Ramsey sind ganz unterschiedliche Typen. Es ist Lionel Shriver sehr gut gelungen, die Kontraste in der Charakterisierung beider Figuren herauszuarbeiten. Ebenso gegensätzlich wie die Personen, sind schließlich auch die mit ihnen verbundenen Lebenswege, die Irina jeweils gemäß ihrer Entscheidung beschreitet. Die Autorin hat hierbei ihrer Vorstellungskraft freien Lauf gelassen. Sie vermag sowohl die abenteuerliche als auch die ernsthafte Variante glaubhaft darzustellen. Auch die Entwicklungen im Allgemeinen, sowie der Personen im Besonderen sind gut verfolgt. Es lässt sich feststellen, dass das was man nicht hat mitunter einen größeren Reiz ausstrahlt, als das was man hat. Ganz einfach wie im wahren Leben, daher absolut nachvollziehbar. Oftmals erscheinen Personen oder Begebenheiten von außerhalb betrachtet viel ansprechender, als sie sich schließlich tatsächlich ergeben. So erleben wir durch Irina, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Lionel Shriver hat bezüglich ihres Erzählstils ein glückliches Händchen bewiesen. So changieren Wortwahl und Situationsumschreibungen je nachdem, welche Pärchenkonstellation gerade im Fokus steht. Im Leben von Irina an der Seite Ramseys geht es doch weit umgangssprachlicher, salopper und gelöster zu, während im Leben von Irina an der Seite Lawrences der Intellekt stark hervorsticht. Irinas Ausdruck und Benehmen passen sich dabei dem jeweiligen Partner weitestgehend an. Die Autorin erzeugt mit Besonnenheit und viel Liebe zum Detail eine intensive Atmosphäre und beschreibt Menschen, Umgebung und Gedankengänge derart, dass beim Lesen eine gewisse Nähe zu Personen und Handlung entsteht. Liebespaarungen lässt sich insgesamt recht einfach und flüssig lesen. Die Spannung lässt allerdings streckenweise etwas zu wünschen übrig. Während die Passagen um das Thema Snooker noch mein Interesse wahrten, gab es dennoch im Verlauf der weiteren Erzählung hier und da Abschnitte, die durchaus eine Kürzung vertragen hätten, um die Geschwindigkeit der Handlung beizubehalten. Doch alles in allem tröstet die Gesamtgeschichte, nicht zuletzt durch die überzeugende Situation zum Ende des Romans, über zeitweilige Langatmigkeit hinweg, so dass ich mich dennoch bestens unterhalten fühlte. Einziges deutliches Manko: Ich bin der russischen Sprache nicht mächtig. Für den ein oder anderen Hinweis hinsichtlich der Bedeutung hier und da eingestreuter Äußerungen wäre ich dankbar gewesen.

Ein großes Lob muss ich für die äußerliche Gestaltung von Liebespaarungen aussprechen. Sowohl die Motivwahl, die Farbgebung als auch den Titel finde ich bei dem vorliegenden Roman außerordentlich treffend. Ein wahrlich schönes Buch, das schon für die edle Aufmachung allein einen Stern verdient!

Fazit:

Was lernen wir nun aus dieser Geschichte um Irinas Entscheidungen? Ganz klar: Fragen nach dem „was wäre wenn“ sind müßig, denn „es kommt sowieso ganz anders als man denkt“!