Rezension

Die Türkei feiert 100 Jahre Republik.

Die rissige Brücke über den Bosporus -

Die rissige Brücke über den Bosporus
von Can Dündar

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Feiern ist nicht, trauern ist angesagt.

In „Die rissige Brücke über den Bosporus“ beklagt Can Dündar, dass die 1923 begonnene Reform der Türkei durch Kemal Mustafa Atatürk, sein gewaltiger Versuch, aus der Türkei einen modernen Staat zu machen, eine Republik mit demokratischen Grundsätzen, 2023 zu Grabe getragen wird. Zitat: „Ins Jahr 2023 geht Ankara mit dem Traum, die hundertjährige Parenthese der Republik zu schließen und unter Führung Erdoğans ein neues, auf dem Islam basierendes Reich zu schaffen.” Bewegend beginnt Dündars Analyse der Türkei mit der Wahlnacht am 28. Mai 2023. „Es war als hätten wir keine Wahl verloren, sondern ein Land“.
Nachdem Mustafa Kemal Atatürk seinem Land 1923 mit eiserner Hand Reformen aufgezwungen hatte, von denen manche sinnvoller gewesen sind als andere, denn warum sollte man seinem Volk „westliche Musik“ aufzwängen, versäumte er es, die Menschen für seine Reformen zu gewinnen. Fast vom ersten Moment an formte sich eine starke Gegenbewegung, die im Laufe der Jahre politischer und fordernder wurde. „Zwar hatte das Regime gewechselt, doch die Gesellschaft stand weiterhin unter dem Einfluss des religiösen Fanatismus, der sich jahrhundertelang gegen die Einführung des Buchdrucks, die Modernisierung der Armee, die Emanzipation der Frau, die Entwicklung der Kunst und gegen die Westausrichtung des Landes gewehrt hatte.“ Atatürk schlug jede Gegenbewegung blutig nieder. Er hatte weder die Zeit noch die Geduld, die Bevölkerung auf den neuen Weg mitzunehmen. Dies rächte sich bitter.

Der Gewohnheit, sich mit dem politischen Gegner nicht zu messen und auszutauschen, das Volk nicht einzubinden, folgten (fast) sämtliche führenden Politiker. Es ging hin und her. Doch egal, welche Partei und Meinung gerade vorherrschend war, der Richtungsstreit war immer durch politische Morde, Pogrome, Folter und Wegsperren begleitet. Bis heute ist die türkische Republik geprägt von Gewalt. Bald kann man nicht mehr von einer Republik sprechen. Der Laizismus (Trennung von Staat und Religion) ist längst schon auf der Strecke geblieben. 

Der Kommentar: 
Can Dündar nimmt seine Leser mit in die wechselvolle Geschichte der letzten hundert Jahre der türkischen Politik. Er schreibt leicht verständlich, leidenschaftlich und berührend. Er arbeitet chronologisch und emotional. Das gefällt mir sehr gut.
Der Autor zitiert Çetin Altan, wenn er die Rolle der Militärs in der Türkei beschreibt: „Die türkische Demokratie ist eine Schaukel, die zwischen Kaserne und Moschee hin und herpendelt.“ Jahrzehntelang wachte das Militär über die Verfassung. „Aufgabe der Streitkräfte ist es, die türkische Republik zu sichern und zu bewahren“ – das Militär ging dieser Aufgabe solange nach, bis es von Erdoğan ausgeschaltet wurde. Dündar meint freilich, dass die Militärputsche dem Land nicht gut getan hätten. Die Generäle, die zeitweilig die Macht übernahmen und das Land regierten, ließen politische Gegner reihenweise hinrichten. Die letzten hundert Jahre waren politisch insgesamt eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung ,freilich mit wechselnden Protagonisten. 1993 meint der Autor, war eines der schlimmsten Jahre in der Geschichte der Türkei. Mord und Terror. Attentäter, die als Motiv einen religiösen Grund angaben, wurden oft nach wenigen Monaten Haft wieder auf freien Fuß gesetzt. 

Manchmal vermerkt man negativ, dass ein Journalist kein Historiker ist, da fehlen Bezüge hier und da, Zusammenhänge, die für Can Dündar als Türke so selbstverständlich sind, dass er sie nicht erwähnt, sind es für mich nicht. Manchmal merkt man positiv, dass ein Journalist kein Historiker ist, da wird es kenntnisreich intim und ich erfahre Wahlslogans und Spitznamen und andere Details, die mir die Geschichte dieses Landes nahe bringen und die ein Historiker um der roten Linie willen, weglässt. Man kann in einer Rezension  nicht alle markanten Geschehnisse bringen, lese man das Sachbuch selber, um besser Bescheid zu wissen. Schlagworte sind Reformen, Putsche, Gezi-Park, Pogrome, das größte Journalistengefängnis der Welt, "geheimer Staat im Staat", pol. Kampf um den Anbau von Schlafmohn, wirtschaftlicher Aufschwung genauso wie Inflation, Annäherung (abwechselnd) an West und Ost, Gülen-Bewegung, etc. etc.

Gegen Ende schlägt das türkische Erbe Can Dündars, der seit sieben Jahren im deutschen Exil lebt, durch. Er erliegt der Versuchung nach guter alter Ostmanier, den Westen, die EU, die NATO, USA, good old Germany, whosover, für die Misere der Türkei verantwortlich zu machen. Sicher, es wurden Fehler gemacht. So wie halt immer Fehler gemacht werden. Doch das Abgleiten der Türkei von einer mehr oder weniger stabilen Demokratie in eine festgemauerte Autokratie haben die Türkei und ihre Wählerschaft ! ganz allein zu verantworten.
Eine Zeitleiste und ein Namensverzeichnis im Anhang runden dieses Sachbuch ab. 

Fazit: „Die rissige Brücke über den Bosporus“ ist eine leidenschaftliche, flüssig geschriebene, gar nicht trockene Geschichtserzählung der letzten hundert Jahre Türkei mit Schwerpunkt auf der Politik. Historiker sind oft zu trocken; Journalisten manchmal ungenau. Aber das tut der Lektüre keinen Abbruch. Ich empfehle dieses Buch! 

Kategorie: Sachbuch. Türkei. 100 Jahre Türkei
Galiani Berlin, 2023 (Imprint von KiWi).

Kommentare

Emswashed kommentierte am 24. Oktober 2023 um 15:45

Sehr interessant!