Rezension

Dunkel. Schwer. Wort-Gewaltig.

Atemschaukel - Herta Müller

Atemschaukel
von Herta Müller

Bewertet mit 3.5 Sternen

Rumänien, Januar 1945. "Es war 3 Uhr in der Nacht, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15° C." So beginnt der erschütternde Bericht eines jungen Mannes, der in ein russisches Straflager verschleppt wird so wie 60000 andere Rumäniendeutsche, von deren Schicksal Herta Müller in diesem ungeheuren Buch erzählt. In Gesprächen mit dem verstorbenen Dichter Oskar Pastior und anderen Überlebenden der Lager hat sie den Stoff gesammelt und zu überwältigender Literatur geformt.

Als im Sommer 1944 die Rote Armee schon tief nach Rumänien vorgerückt war, wurde der faschistische Diktator Antonescu verhaftet und hingerichtet. Rumänien kapitulierte und erklärte dem bis dahin verbündeten Nazideutschland völlig überraschend den Krieg. Im Januar 1945 forderte der sowjetische General Vinogradov im Namen Stalins von der rumänischen Regierung alle in Rumänien lebenden Deutschen für den "Wiederaufbau" der im Krieg zerstörten Sowjetunion. Alle Männer und Frauen im Alter zwischen 17 und 45 Jahren wurden zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager deportiert.
Die Mutter der Autorin war fünf Jahre in einem solchen Arbeitslager, ebenso wie Oskar Pastior, mit dem sich Herta Müller jahrelang unterhalten und ausgetauscht hat und mit dem zusammen sie dieses Zeugnis einer fast vergessenen Vergangenheit eigentlich hatte schreiben wollen. Als er überraschend starb, brauchte sie ein Jahr um zu entscheiden, dieses Buch letztlich alleine zu verfassen.

Geschrieben ist es aus der Erzählperspektive des jungen Leo Auberg, für den die Jahre im Arbeitslager nicht nur zu einer harten Bewährungsprobe wurden, sondern überaus entscheidend und hartnarbig für sein gesamtes weiteres Leben. Vorbild für diese literarische Figur ist dabei der genannte Oskar Pastior.
In Kapiteln von jeweils einigen Seiten wird keine eigentliche Geschichte erzählt, sondern Episoden, Gedanken, Erlebnisse skizziert, seziert, memoriert. Viele davon beschäftigen sich mit der tatsächlichen Zeit im Lager, dem ewigen Hunger, der knochenharten Arbeit, dem Umgang miteinander, den Überlebensstrategien. Aber fast noch beeindruckender ist die Schilderung der Zeit danach, denn es macht die endgültige Heimatlosigkeit deutlich, das Sichverschließen vor anderen und das Niemehrabhängigmachen. Es wird überaus deutlich, wie sehr diese Jahre im Lager Einfluss haben auf den gesamten Rest des Lebens, und darin liegt die eigentliche Melancholie. Es gibt keine wirkliche Rettung, kein Entkommen vor diesen Erfahrungen...

Nun hat Herta Müller 2009 nach Erscheinen von "Atemschaukel" den Literaturnobelpreis erhalten. Zeichen genug, um schon im Vorfeld deutlich zu machen, dass es auch um Besonderheiten der sprachlichen Formulierungen geht. Als Begründung für die Vergabe des Preises schrieb die Akademie u.a., die 56 Jahre alte Autorin zeichne "mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit".
Und hierin liegt der Grund, weshalb ich persönlich dem Buch nicht die Höchstwertung vergebe. Bleischwer sind die Sätze, bedeutungsschwanger bald jedes Komma, der Stil und die Sprache von Bildern, Metaphern, Anspielungen und Allegorien gesättigt - teilweise fast übersättigt. Ich habe nichts gegen das Spiel mit der Sprache, fand manche Formulierungen wie Atemschaukel, Hungerengel und Hautundknochenzeit durchaus akzeptabel und nachvollziehbar - aber manches war dann doch des Guten zu viel. Beispielsweise drei oder vier Seiten lang denselben Sachverhalt in immer neuen Formulierungen darzustellen oder Erlebnisse derart metapherhaft zu formulieren, dass fast nicht mehr deutlich wird, um was es eigentlich geht, das war mir persönlich zu anstrengend. Oft habe ich das Buch nach einigen Seiten gerne wieder weggelegt, einfach weil es reichte.

Wort-Gewaltig ist das Buch, dunkel und schwer. Beeindruckend in jedem Fall, aber es will mit Muße und in wohldosierten Häppchen gelesen und verarbeitet werden.

© Parden