Rezension

Dystopisches Venedig

Acqua alta -

Acqua alta
von Isabelle Autissier

Bewertet mit 4 Sternen

Guido Malegatti ist Bauunternehmer und gewählter Stadtrat in Venedig. Im Pandemiejahr 2021 treffen wir ihn als Überlebenden einer gigantischen Katastrophe. Venedig ist nur noch ein Steinhaufen, Guidos Kiez zerstört, die Kanäle sind nicht mehr schiffbar – und die Schicksale seiner Frau und seiner Tochter noch ungeklärt. Könnte ein Attentat auf das Sperrwerk vor der Lagune der Auslöser der Katastrophe gewesen sein? Da Guido zwischen einstürzenden Gebäuden verletzt wurde, kann er die Ereignisse jedenfalls nicht leugnen.

In Rückblicken lässt sich Guidos beruflicher und politischer Aufstieg bis in die Gegenwart verfolgen. Der fast 60-Jährige war auf beiden Ebenen mit der im Schlamm versinkenden Stadt konfrontiert, in der Einheimische sich längst keine Wohnung mehr leisten konnten und der der Kreuzfahrt-Tourismus gerade den Todesstoß versetzte. Guido hat stets Arbeitsplätze für seine Wähler im Auge. Zur dauerhaften Rettung der Lagune durch Einschränkung der Besucherzahlen mag er sich nicht entschließen, setzt stattdessen auf immer neue kleinteilige Projekte, die die Stadt nicht vor dem Verlust des UNESCO-Weltkulturerbe-Status retten werden. Guidos 17-jährige Tochter Léa hat gerade ein Studium der Kunstgeschichte begonnen. Sie begreift durch Werke alter Meister, wie stark die Stadt sich seit Canalettos Zeiten verändert hat – und dass ihrer Generation keine Zeit mehr bleibt, an Symptomen herumzuflicken. Als Leá sich einer kleinen Gruppe von Umwelt-Aktivisten anschließt, stehen Vater und Tochter sich als unerbittliche Gegner gegenüber. Léas Mutter Maria Alba in der Rolle der italienischen Mamma mit Empty-Nest-Problem nimmt zunächst eine Nebenrolle ein.

Venedig hatte sich in der Geschichte stets gegenüber dem Land abgesichert und zum Meer und der Schifffahrt geöffnet; das wird der Stadt in der Gegenwart zum Verhängnis. Isabel Autissiers präzise Erläuterung des Ökosystems Lagune und der erhofften Wirkung des Sperrwerks MO.S.E. trifft auf ihren empathischen Blick ins Innere ihrer Figuren. Mit Vater und Tochter zeigt sie exemplarisch den Generationskonflikt zwischen der Eltern-Generation, die zum Handeln bereit ist, aber nicht gerade heute, und ihren Kindern, die eine völlig neue Lebensweise fordern. Als in der Corona-Pandemie die Einnahmen aus dem Tourismus wegbrechen und man durch klares Wasser wieder auf den Grund der Lagune blicken kann, eskaliert der Konflikt. Guido wird praktisch aufgerieben zwischen der Forderung seiner Wähler nach Arbeitsplätzen und Ansprüchen junger Aktivisten, die ein Ende des Kreuzfahrttourismus fordern.

Fazit
Atmosphärisch und stilistisch ein starker Roman, der allerdings sehr kurz wirkt, wenn man den Konflikt um das sterbende Venedig und die Funktion des Sperrwerks bereits verfolgt hat.