Rezension

Ein Buch, das man eigentlich nicht rezensieren kann - und dem ich viele Leser wünsche

Vergessen oder  vergeben - Alexandre Oler, David Olere

Vergessen oder vergeben
von Alexandre Oler David Olere

Bewertet mit 5 Sternen

»An seinem linken Unterarm ist die Nummer 106144 eintätowiert. Er ist französischer Jude. Im März 1943 wurde er mit dem Transport Nr. 49 von Drancy nach Auschwitz deportiert und gezwungen, als Häftling des Sonderkommandos zu arbeiten. Er muß Gräben ausheben, in denen Kinder lebend verbrannt werden, er muß die Gaskammern leeren, um für die nächsten Transporte Platz zu schaffen, er muß die Öfen der Krematorien mit Leichen und Brennstoff versorgen. Anders gesagt, er trägt mit eigenen Händen zur ›Endlösung‹ bei, zur völligen Vernichtung sämtlicher Juden Europas.

Dieser Mann ist mein Vater. David Olère, Maler, Zeichner und Bildhauer.«

Mit diesen Worten beginnt die »Kurze Vorrede« (S. 13 f.), die Alexandre Oler den Bildern und Texten des Buchs voranstellt. Der Band hat zwei Teile: »Vom verplombten Viehwaggon direkt in die Gaskammer« (S. 15–41) und »Leben und Tod im Lager« (S. 43–115). Alexandre Oler hat Bilder (und zwei Fotos von Skulpturen) seines Vaters ausgewählt, die meisten in der Zeit von der Befreiung bis 1948 gemalt, und ihnen jeweils (auf der gegenüberliegenden Seite des Buchs) eigene Texte gegenübergestellt: Kommentierungen, »unmittelbar bezogen auf das Erleben« seines Vaters, »auf Erfahrungen und Szenen, die von anderen dokumentarischen Zeugnissen bestätigt wurden« und über die er sich selbst »bei mehreren Reisen an den Ort des Schreckens in Begleitung von Historikern« ein Bild machen konnte (S. 13).

Zeittafeln am Schluss des Buchs (S. 117–119) vermitteln einige Lebensdaten von Vater und Sohn, das Vorwort von Serge und Beate Klarsfeld (S. 7–10) gibt eine Skizze des Lebens von David Olère (Künstlername für Oler).

David Olère wurde 1902 in Warschau geboren, 1915 wurde er in die Kunstakademie Warschau aufgenommen; 1918 zog er nach Berlin, wo er für den Regisseur Ernst Lubitsch als Maler, Layouter und Studiodekorateur arbeitete. 1923 ging er nach Paris, wo er 1930 Juliette Ventura heiratet; der Sohn Alexandre wird am 13. Juli geboren. 1939 wird Olère zur französischen Armee eingezogen, 1940 wird Paris von deutschen Truppen besetzt. 1943 wird Olère von französischer Polizei verhaftet, Anfang März vom Lager Drancy nach Auschwitz-Birkenau deportiert; von den 1000 Juden dieses Transports wurden 881 sofort ermordet (vergast), zwei Frauen und vier Männer überlebten Auschwitz.

Olère wurde in Auschwitz dem Sonderkommando zugewiesen, d.h. jener Gruppe jüdischer Häftlinge, die zur Arbeit an den Gaskammern und in den Krematorien gezwungen wurden; die Angehörigen solcher Sonderkommandos wurden in Abständen von einigen Monaten umgebracht, andere Häftlinge traten an ihre Stelle; nur wenige überlebten. Olère musste für die SS Bilder malen und war daher meist »von jeder anderen Arbeit für das Sonderkommando suspendiert« (S. 7). Im Vorwort heißt es: »Auschwitz konnte David Olère überleben, weil er Künstler war und mehrere Sprachen beherrschte: polnisch, russisch, jiddisch, französisch, englisch, deutsch. Gerade seine Deutschkenntnisse und sein Talent als Zeichner machten ihn für die SS interessant. Er schrieb für sie kalligraphierte und mit Blumen dekorierte Briefe an ihre Familien. Manchmal jedoch wurde er auch zu den Verbrennungsöfen beordert oder mußte an der ›Räumung‹ der Gaskammern teilnehmen. Zuweilen wurde er auch unfreiwillig Zeuge des Höhepunkts der Schrecken, die sich im Krematorium abspielten: des Ausziehens im Auskleideraum, der Vergasung, der Arbeit der Zahnärzte und Frieseure, der Einäscherung der Körper, der sexuellen Ausschreitungen der SS gegenüber jungen jüdischen Mädchen, der sogenannten medizinischen Experimente, des Entsetzens der Opfer, der Grausamkeit der Mörder.« (S. 8)

All dies spiegelt sich in den Bildern, die Olère gemalt hat. – Am 19. Januar 1945 wird David Olère auf einen Todesmarsch geschickt, kommt von da u.a. nach Mauthausen; in Ebensee (Österreich) wird er am 6. Mai von der amerikanischen Armee befreit. Er kehrt nach Noisy le Grand (heute Marne la Valée) in der Nähe von Paris zurück, wo die Familie seit 1937 wohnte; er beginnt, seine Erinnerungen zu malen. Olère stirbt am 2. August 1985.

Alexandre Oler wird 1943 von seiner Mutter getrennt und wird von einer geheimen jüdischen Organisation in Pflegefamilien gegeben. Nach der Befreiung von Paris 1945 muß er arbeiten und Geld verdienen, er macht Karriere im Finanzwesen; 1995 beginnt er am vorliegenden Buch zu arbeiten, das Werk seines Vaters vermacht er Holocaustmuseen in Israel, den USA und Frankreich.

»Ungefähr neunzig Prozent der Deportierten, die nach einer endlos scheinenden Fahrt in verplombten Viehwaggons lebend in Auschwitz II Birkenau ankamen, haben nie erfahren, wo sie sind.

· Sie glauben sich in Deutschland, / doch sie sind in Polen.

· Sie glauben sich in einem Arbeitslager, / doch sie sind in einem Vernichtungslager.

· Sie glauben sich auf dem Weg zum Duschraum, / doch sie gehen zur Gaskammer.

Für sie bleibt Auschwitz für immer unbekannt als Ort und Wort. Dieser erste Teil zeigt, was in den wenigen Stunden zwischen der Ankunft der Züge an der Selektionsrampe und dem Ausgang durch den Schornstein der Krematorien II bis V geschah. In wenigen Stunden nur.«

Mit diesen Worten (S. 17) leitet Alexandre Oler den ersten Teil des Buchs ein. Seine Texte zu den Bildern seines Vaters sind in dieser Art geschrieben: knapp, das im Bild Gezeigte aufgreifend und klärend, und so gewählt, dass sie genau treffen. Ein Bild (Teil II, S. 89) mit dem Titel »Ein Versteck für Gold« zeigt etwa einen nackten, völlig abgemagerten Mann, der sich vor einem SS-Mann drehen muss und inspiziert wird, ob er vielleicht irgendwo Wertsachen versteckt hat; er muss dem SS-Mann sein Gesäß entgegenstrecken, mit Haut überzogene Knochen. Der Text zu diesem Bild:

»Der SS-Mann prüft, / ob ich goldene Eheringe, Schmuck, / Diamanten und andere Wertsachen versteckt habe / im Depot meiner Schweizer Bank.

Er hat eigens seine Brille aufgesetzt…«

Andere Bilder zeigen das Lager, Menschen im Lager; die in der Gaskammer ermordeten Menschen, die von Häftlingen weggeschleift (S. 35) und anschließend im Krematorium verbrannt werden (S. 39); Menschen, die im Gas erstickt sind (S. 33):

»Kein Außenstehender hat jemals gesehen, was Ihnen hier vor Augen kommt.

[…] Dieses Bild zeigt mit unübertroffener Präzision, was man einer Million Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau angetan hat.

Es gibt kein Photo. Nur ein professioneller Maler, der selbst Zeuge dieser alltäglichen Tragödie im Lager war, konnte eine solche Szene aus dem Gedächtnis wiedergeben.

Nur um dieses Bild der Welt zu zeigen, habe ich überlebt. Jeden Morgen lege ich von neuem im verplombten Waggon die Strecke von Drancy bis zu den Öfen zurück. Jeden Abend kämpfe ich im Dunkeln um den nächsten Atemzug.« (S. 32)

Die Bilder zeigen die Arbeit im Steinbruch; Häftlinge, die auf einem Holzkarren tote Menschen transportieren; Frauen im Lager, die ihre Suppe essen; einen SS-Mann oder -Arzt vor zwei jungen Frauen (»Die Zwillinge haben Glück«, S. 67; »Ihr seid also Zwillinge, ja? / […] Schön! Sehr gut! Ihr habt Glück! / Doktor Mengele wird sich um euch kümmern…«, S. 66); brennende Gräben, in die kleine Kinder geworfen werden; Gefangene, die sich vor einem Davidstern und einem Bild von Jesus sammeln u.a.

Es ist schwierig ÜBER ein solches Buch – über dieses Buch – zu schreiben, es zu rezensieren, das darin Gezeigte irgendwie zu beurteilen, für den Leser zu bewerten; dass dieses Buch niemanden unberührt lassen kann (sehr zurückhaltend ausgedrückt), dürfte deutlich geworden sein. Die Bilder zeigen einen Ausschnitt aus dem, was Menschen (nichtjüdische Deutsche) anderen Menschen (Juden) angetan haben, sie werfen, zusammen mit den Texten, ein Licht auf Ausschnitte der Realität (ohne diese letztlich einzuholen). Serge und Beate Klarsfeld schreiben im Vorwort, Olères Werk wirke »auf den Betrachter eher abstoßend, als daß es ihn faszinierte oder gar anzöge« (S. 9). Aber »anziehend« und »abstoßend« sind die falschen (ästhetischen) Kategorien.

Die Bilder haben (worauf die Klarsfelds auch hinweisen) vor allem moralische und nicht ästhetische Qualität. Die Bilder zeigen Menschen in ihrem Leid und Menschen (Ermordete), die gelitten haben, sie geben ihnen eine Geschichte (und sei es auch nur die kurze Geschichte ihres Sterbens), zeigen ihr Erleben – sie wirken nicht ästhetisch, sondern moralisch.

Serge und Beate Klarsfeld schreiben auch, der »Betrachter« wende »unweigerlich den Blick ab« und weigere sich, »anzuschauen, was David Olère in Auschwitz mit eigenen Augen gesehen hat und was ihn nie wieder loslassen sollte« (S. 9). Sie beschreiben mit dem Wort »unweigerlich« vermutlich Reaktionen auf die Bilder, von denen sie wissen. Meines Erachtens wirken die Bilder aber so, dass man nicht einfach weitergehen kann, dass man hinsehen muss. Sie drücken auch das aus, was Emmanuel Lévinas geschrieben hat, dass nämlich der Sinn des menschlichen Antlitzes darin bestehe zu sagen: »Du darfst nicht töten.«

Viele Bilder sind schrecklich. Warum nicht den Blick abwenden, warum sich so etwas ›antun‹? Zum Beispiel aus Solidarität mit den Menschen. Weil es auch zu einer selbstverständlichen Menschlichkeit gehört, nicht wegzugucken, weil sie in der Erinnerung in gewisser Weise bewahrt werden. Damals haben viele weggesehen; und jetzt? Die Menschen sind ja nicht aus der Welt, weil sie tot sind.

Die Bilder sind schrecklich – zu ihrer Wirkung gehört auch ein Erschrecken über das, was Menschen Menschen angetan haben und antun können (auch wenn man dies schon alles gelesen hat und davon weiß).

Ich wünsche den Bildern von David Olère viele Menschen, die sie ansehen, und den Texten von Alexandre Oler viele Leser.