Rezension

Ein ganz besonderes Buch

Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums - Benjamin Alire Sáenz

Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums
von Benjamin Alire Saenz

∞ „Irgendetwas passierte in mir, als ich in das weite Universum blickte. Durch dieses Teleskop war die Welt näher und größer, als ich sie mir je vorgestellt hatte. Alles war so schön und überwältigend und – ich weiß nicht – es machte mir bewusst, dass etwas in mir von Bedeutung war.“ ∞ Wenn ich ein fast 400 Seiten umfassendes Buch in einem Rutsch lese, währenddessen ein breites Lächeln im Gesicht und ein warmes Gefühl im Magen habe und nach Beenden das Bedürfnis, nochmal von vorne zu lesen – was ich in der Zwischenzeit auch getan habe – dann weiß ich, dass ich soeben ein für mich ganz besonderes Buch entdeckt habe. So war es bei „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ von Benjamin Alire Sáenz. Doch bevor ich weiter schwärme, schreibe ich kurz, wovon es handelt.

∞ „Wahrscheinlich hatte ich es ganz gut. Vielleicht liebten mich nicht alle, aber ich gehörte auch nicht zu denen, die von allen gehasst wurden. Ich konnte mich gut verteidigen, deshalb ließ man mich in Ruhe. Die meiste Zeit war ich unsichtbar. Ich glaube, mir gefiel das so. Und dann kam Dante.“ ∞

Der fünfzehnjährige Aristoteles Mendoza ist unzufrieden mit sich und seinem Leben. Ihm fehlt der Sinn und er verfügt über keinen Draht zu seiner Generation. Er hat keine Freunde, will aber auch keine. Bis er eines Tages im Schwimmbad auf Dante Quintana trifft, der zu ihm sagt: „Ich kann dir beibringen, wie man schwimmt.“ - Eine bedeutsame Begegnung und ein Satz, der auf die gesamte Geschichte übertragen fast eine symbolhafte Bedeutung einnimmt. Denn beide werden sich gegenseitig nachhaltig beeinflussen und prägen. Dante wird Ari nicht nur beibringen, wie man schwimmt. Er wird ihm beibringen, wie man lebt.

∞ „Eine Träne lief ihm über die Wange. Im Licht der untergehenden Sonne erinnerte sie an einen Fluss. Ich fragte mich, wie es wohl war, ein Junge zu sein, der einen toten Vogel beweint. (…) Und irgendwie fand ich, dass Dantes Gesicht eine Landkarte der Welt war. Einer Welt ohne Dunkelheit. Wow, eine Welt ohne Dunkelheit. Wie schön war das denn?“ ∞

Ich bin verliebt in dieses Buch, habe diese Figuren in mein Herz geschlossen. Es sind zwei der wunderbarsten Personen, die mir jemals in einem Roman begegnet sind, zwei der liebsten Menschen des ganzen Universums. „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ ist ein einfühlsames, glaubhaftes, wunderschönes Jugendbuch, dem ich noch mehr Aufmerksamkeit wünsche. Langsam, zaghaft, nicht übereilt entspinnt sich die Geschichte um Freundschaft, Vertrauen, Loyalität, Liebe. Von der ersten Seite an hat es mich in seinen Sog gezogen und ich war mitten in der Geschichte drin, als Ari anfängt, von seinem Leben zu erzählen und wie es sich ändert, als er Dante kennenlernt.

∞ „Und er hatte nichts Gemeines an sich. Mir war nicht klar, wie man in einer gemeinen Welt leben kann, ohne dass ein bisschen von dieser Gemeinheit auf einen abfärbt. Wie konnte jemand ohne einen Hauch von Gemeinheit leben? Dante wurde ein weiteres Geheimnis in einer Welt voller Geheimnisse.“ ∞

Benjamin Alire Sáenz lässt Ari aus der Ich-Perspektive erzählen, es entsteht ein besonderer Schreibstil: roh, schlicht, sarkastisch, ironisch, klar, sensibel. Ungezwungen, auf den Punkt kommend, kein Wort zu viel. Er schreibt in knappen Sätzen und kurzen Kapiteln und erschafft in der Luft schwebende, beflügelnde Worte. Ein herzzerreißender Strom von Gefühlen und philosophischen, poetischen Gedanken, die Ari offenbart und die aus seinem Innersten kommen; tiefgründige Dialoge, die ins Herz treffen. Doch auch alltägliche, aus dem Leben gegriffene Gespräche – statt einer Aneinanderreihung von Kalendersprüchen - lassen sich in dem Buch auffinden. Das macht es umso authentischer. Es existiert einfach, ohne irgendetwas Besonderes sein zu wollen und das macht es für mich so besonders. Das gesamte Buch ist einfach wunderschön, tief, ehrlich, intensiv, menschlich, aufrichtig.

∞ „Alle erwarteten etwas von mir. Etwas, das ich nicht geben konnte. Deshalb benannte ich mich in Ari um. Wenn ich den letzten und vorletzten Buchstaben vertauschte, hieß ich Air, also Luft. Ich stellte es mir großartig vor, Luft zu sein. Ich konnte etwas und nichts gleichzeitig sein. Ich konnte notwendig und auch unsichtbar sein. Alle brauchten mich, aber keiner konnte mich sehen.“ ∞

An einer Stelle des Buches sagt Ari über sich, dass er nicht nur vom Teint dunkler als Dante sei. Ari ist ein trauriger, gelangweilter, von Selbstzweifeln geplagter, unglücklicher Junge, der, von unterdrückten Gefühlen beherrscht und umgeben, ein Gefängnis um sich errichtet hat. Er fühlt sich einsam, orientierungslos, fremdbestimmt, lebt mehr im Kopf und ist sich selbst unergründlich und widersprüchlich. Ari hat keine hohe Meinung von sich selbst, ist hart mit sich und der Welt und nicht mit sich selbst im Reinen. Wie das eben ist, als nachdenklicher, zweifelnder und hinterfragender Heranwachsender. Erst von Dante lernt er, nicht wegzulaufen und sich stattdessen seinen Gefühlen zu stellen. Äußerlich sind die beiden unterschiedlich, denn Dante ist offen, feinsinnig, lebhaft; aber innerlich ähneln sie sich mehr als sie meinen. Die Gegensätze existieren nur nach außen hin, auch Dante hat Identitätszweifel.

∞ „Warum lächeln wir? Warum lachen wir? Warum fühlen wir uns allein? Warum sind wir traurig und verwirrt? Warum lesen wir Gedichte? Warum weinen wir, wenn wir ein Gemälde sehen? Warum ist unser Herz in Aufruhr, wenn wir lieben? Warum schämen wir uns? Was ist das Ding in unserer Magengrube, das wir Sehnsucht nennen?“ ∞

All dies sind Fragen, die sich auf Aspekte des Menschseins beziehen und die für Ari unergründlich sind und für ihn zu den vielen Geheimnissen des Universums gehören, die Ari zusammen mit Dante im Laufe der Geschichte entdeckt. Der Titel ist Programm. Es geht um die schwer zu ergründenden Geheimnisse des Universums. Es ist ein beobachtendes, feinfühliges, aufmerksames, anregendes, Fragen stellendes Buch. Nicht ohne Grund tragen die beiden Hauptfiguren die Namen bedeutender Philosophen. Sie erkennen die anderen Menschen, probieren Dinge aus, experimentieren. All dies wird vom Autor ohne Zeigefinger präsentiert, was ihm hoch anzurechnen ist.

∞ „Klar, ich hatte alle möglichen tragischen Gründe für mein Selbstmitleid. Dass ich fünfzehn war, half auch nicht gerade. Fünfzehn zu sein, dachte ich manchmal, war die schlimmste Tragödie von allen.“ ∞

„Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ ist ein berührender Selbstfindungsroman. Die Schwierigkeiten des Heranwachsens werden sensibel thematisiert, sowie vielfältige weitere Aspekte, wie zum Beispiel die Identitätsprobleme von Mexikanern in Amerika, die psychischen Auswirkungen des Vietnamkriegs und eine Familie, in der vieles totgeschwiegen wird. Die Beziehung zur Familie, zwischen Eltern und Söhnen und die Entwicklung dieser nimmt insgesamt eine wichtige Position in der Handlung des Buches ein. Sowie natürlich die Wandlung der Beziehung zwischen Aristoteles und Dante, die sich miteinander entwickeln. Das Buch ist ein ergreifendes, differenziertes und überzeugendes Plädoyer für wahre Freundschaft und Offenheit, das ich jedem Jugendlichen und eigentlich überhaupt jedem Menschen ans Herz lege. Es liefert eine hohe Identifikationsmöglichkeit und starke Aussagen für insgesamt alle.

∞ „Obwohl der Sommer fast immer von Sonne und Hitze bestimmt war, gehörten für mich auch die Gewitter dazu, die kamen und gingen. Die mir ein Gefühl des Alleinseins gaben. Ob sich alle Jungen allein fühlten? Die Sommersonne war nicht für Jungen wie mich gedacht. Jungen wie ich gehörten dem Regen.“ ∞

Man sollte keine „Action“ erwarten, denn äußerlich passiert nicht viel. Dafür aber innerlich. Es entspinnt sich eine zart bewegende Geschichte, wenn man sich darauf einlässt. Das Buch ist in seiner schlichten Schönheit bereichernd. Der Leser wird mit tiefen Gefühlen und Gedanken konfrontiert, für die er sich öffnen muss. Es ist ein leises, unaufdringliches, angenehm zurückhaltendes und zugleich lautes, aufwühlendes Buch. Die Gefühle werden wunderbar rübergebracht und beim Lesen haben sich bei mir Lachen, Tränen, Gänsehaut, Gefühlsbandbreite und insgesamt ein Herz in Aufruhr abgewechselt. Es ist wirklich ein glücklich machendes Buch, jedoch nicht auf triviale Weise.

∞ „Ich hätte gern gewusst, wie es ist, jemandem die Hand zu halten. Ich konnte mir vorstellen, dass man manchmal alle Geheimnisse des Universums in der Hand eines anderen entdecken konnte.“ ∞

Anmerkung: Mit Verwunderung habe ich in vielen Rezensionen gelesen, dass das deutsche Cover nicht gelungen sei. Auch ich finde das Originalcover wunderschön, aber das deutsche Cover dennoch treffend und passend, vielleicht sogar treffender und passender als das Original. Das deutsche Cover ist ein symbolreiches, das zu Interpretationen aufruft.

∞ „Narben. Ein Zeichen, dass man verletzt gewesen war. Ein Zeichen, dass man geheilt war. War ich verletzt gewesen? War ich geheilt? Vielleicht lebten wir einfach zwischen diesen beiden Polen – verletzt sein und heil werden.“ ∞

Fazit: „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ von Benjamin Alire Sáenz ist ohne Wenn und Aber ein großartiges Jugendbuch für alle, die gerne ruhige Geschichten lesen, die sich auf den Entwicklungsprozess und das Innenleben der Figuren konzentrieren, sowie für all jene, die selbst auf der Suche nach einem Platz in der Welt sind.

∞ „Ich wollte ihnen sagen, dass ich nie einen Freund gehabt hatte, nie, keinen richtigen. Bis Dante kam. Ich wollte ihnen sagen, dass ich nicht gewusst hatte, dass es Menschen wie Dante auf der Welt gab, Menschen, die gern Sterne deuteten und die Geheimnisse des Wassers kannten, die genau wussten, dass Vögel in den Himmel gehörten und nicht von gemeinen, dummen Jungs in ihrem anmutigen Flug abgeschossen werden sollten.“ ∞

(Alle Zitate aus „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ von Benjamin Alire Sáenz sind der Ausgabe Stuttgart: Thienemann Verlag 2014 entnommen)