Rezension

Ein Geniestreich?

Das Genie - Klaus Cäsar Zehrer

Das Genie
von Klaus Cäsar Zehrer

Bewertet mit 4 Sternen

Gegen Ende des 19ten Jahrhunderts kommt Boris Sidis in den USA an. Von seiner Heimat in der heutigen Ukraine will er nichts mehr wissen. Das russische Kaiserreich ist ihm verhasst. Boris ist ein brillianter Lehrer, Wissen ist ihm weitaus mehr wert als Geld. Dass er vor lauter Idealismus nicht in seiner Studienkammer verhungert ist Sarah zu verdanken, die einen ordentlichen Geschäftssinn hat und mit der Boris 1898 einen Sohn zeugt. Und dieser Sohn soll nicht irgendwer werden! Boris hat sich eine Erziehungsmethode ausgedacht, mit der aus dem Jungen ein Genie werden soll. Und erstaunlicherweise funktioniert es!

Ich habe nach einer kleinen Leseflaute zu diesem Roman gegriffen und es war genau das richtige um wieder in Fahrt zu kommen! Die erste Hälfte dieses über 600 Seiten schweren Werks las sich weg wie nichts. Boris war eine Figur, der ich unheimlich gerne gefolgt bin: Ein wunderbar idealistischer Querulant, der zum Jähzorn neigt. Ein polyglotter Besserwisser ohne Sinn fürs Zwischenmenschliche. Das führt zu herrlich absurden Situationen, die mich mehrmals zum schmunzeln brachten. Sein Sohn William James schlägt in die gleicht Kerbe. Man schwankt zwischen Unverständnis, Bewunderung und Mitleid für dieses Kind ohne Benimm und ohne Freunde.

Zehrer beschreibt wunderbar bildhaft die dreckigen, vollen, lebendigen Arbeiterviertel New Yorks und die heruntergekommenen Kammern, die William bewohnt. Auch seine Figuren sind durchweg gelungen. Und ich hatte zwar im Hinterkopf, dass dieser Roman auf Tatsachen beruht, aber die Story ist so absurd, die Höhenflüge von William so enorm, dass ich am Ende doch wieder komplett überrascht war, dass wirklich jede wissenschaftliche Arbeit, jeder Karriereschritt, der versuchte Hochschuleintritt mit 9 Jahren, die Erfindung einer eigenen Sprache, einfach alles wirklich so passiert ist. Man möchte dem Autor fast vorwerfen, dass er es übertreibt, mit der Genialität seiner Figuren, aber das tut er kein bisschen. Diese Genies gab es wirklich.

Meine einzige Kritik ist, dass der Roman in der zweiten Hälfte etwas an Tempo und Spannung verliert. Auch die Beziehung zwischen den Eltern und dem Wunderkind hätte ich gerne mehr in der Tiefe betrachtet, aber vielleicht wollte Zehrer hier nicht zu viel hineininterpretieren, was nicht auf Tatsachen beruht.

Ein Sonderling, ein Wunderkind, das mit dem Leben nicht klarkommt, eine dubiose aber erfolgreiche Erziehungsmethode. Das ist Romanstoff vom Feinsten! Und am Ende bleibt die Frage ob all das nun wirklich ein Geniestreich war, oder doch eher ein Fall fürs Jugendamt.