Rezension

Ein Haus. Seine Bewohner. Ein Leben.

Der Aufgang -

Der Aufgang
von Stefan Hertmans

Bewertet mit 4 Sternen

Nationalsozialismus in Belgien - eine frische Perspektive.

Als der Autor und Erzähler Stefan Hertmans sich in Gent/Belgien in ein heruntergekommenes Haus im Leerstand verliebt, kauft er es spontan und zu einem Spottpreis. Die Geschichte des Hauses ist jedoch gleichzeitig die Geschichte der Familie Verhulst, die lange Zeit vor ihm darin lebte. Zur Zeit des Hauskaufs ist dem Neueigentümer Hertmans diese Tatsache unbekannt. Als er zwanzig Jahre später durch einen Zufall davon erfährt, macht er sich daran, den Lebensweg von Willem Verhulst  (1898 bis 1975) und seiner Familie akribisch zu recherchieren. Davon handelt „Der Aufgang“. 

Der Stil Hertmanns ist nüchtern, dennoch anziehend. Die Leserschaft wird in die Kindheit Willem Verhulstens mitgenommen und kann erahnen, warum er so wurde, wie er wurde. Denn Willem Verhulst ist ein Kollaborateur im von Deutschland besetzten Belgien und ein Denunziant erster Güte; so lieferte er viele Leute ans Messer der SS, der er auch selber angehörte, wenngleich er nie in der ersten Linie stand und sich nur indirekt die Hände schmutzig machte. 

Willem Verhulst ist ein schwieriger Charakter. Dieser Mann musste in seiner Kindheit einiges wegstecken, heute würde man von traumatischen Erlebnissen sprechen. Seine Reaktionen darauf sind von Rebellion geprägt. Er sucht ein Ventil für seine Gefühle und Frustrationen und leider gerät er in schlechte Gesellschaft. Als Flame fühlt er sich im französisch geprägten Belgien unterdrückt und rückt in die Reihen flämischer Widerständler. Diese wiederum fühlen sich dem deutschen Nationalsozialismus verbunden, von dem sie sich Unterstützung versprechen. Viele von ihnen werden rechtsnationalistisch und bleiben auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unbekehrbar. So nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Uneinsichtig bleibt auch Willem bis ans Lebenende. 

Willem ist inzwischen ein Charmeur geworden, ein Frauenheld, einer, der sich durchlaviert, einer der, auch aufgrund von äußerst rudimentärer Bildung, die politischen Zusammenhänge nicht wirklich durchschaut. Aber dumm ist er nicht. Keinesfalls. Er liest und schnappt auf. Man erlebt ihn abwechselnd als impulsgesteuert, ideologisch und leicht explosiv, nationalistisch verblendet mit Tunnelblick, aber auch als guten Organisator und jemanden, der fähig ist, Beziehungen und Gelegenheiten zu nutzen. Daneben ist er aber auch ein Mensch, der liebt und der einen schrecklichen Verlust nicht verkraftet hat.

Willem Verhulst ist eine ambivalente Figur. Naiv, geborgenheitssüchtig, genusssüchtig, skrupellos und immer irgendwie labil. Das hat der Autor sehr gut herausgearbeitet. Natürlich ist dann das Verständnis für ihn aufgebraucht als er anfängt, Verbrechen zu begehen, als er ein Mensch wird, der nur noch um sich selber kreist. Dennoch ist Willem Verhulst exemplarisch für die Verwobenheit von Schicksal: Kindheit. Einfluss. Politische Lage. Soziales Gefüge. Charakter. 

Der Kommentar: 
Der Autor hat mir seine Figur nahegebracht. Ich habe mit ihr gelitten, habe mit ihr gehadert, sie beschimpft und wieder bemitleidet. So ein verfehltes Leben! Die Figur ist authentisch und historisch überdies. Der Autor hat gründlich recherchiert. 

Was bei der Erzählung auf der Strecke bleibt, ist das Haus und die Geschichte des Autors mit dem Haus. Zu Anfang des Romans ist der Autor sehr persönlich und er nimmt den Leser ja auch mit auf die fachkundige, notarielle Begehung des Hauses vor dessen Erwerb, treppauf, treppab. Aber danach erfahren wir nicht mehr, was er dem halb verfallenen modrigen Haus, in dessen Keller das Wasser knietief steht, abgerungen hat. Ist die Renovierung gelungen? Wurde das Haus ein wertvolles Schmuckstück oder blieb es wegen seiner Feuchtigkeit ein Ärgernis? Was man wissen darf, ist, dass Hertmanns das Haus verkauft, nachdem er dessen Geschichte recherchierte, wohl, weil er nicht weiter in einem Haus eines ehemaligen Nationalsozialisten leben mochte, jedoch bleibt dies eine Vermutung. 

Fazit. „Der Aufgang“ ist eine Studie. Der Roman zeichnet den Lebensweg eines belgischen Kollaborateurs nach. Er weckt Empathie für die Familie Verhulst. Der Stil ist nüchtern informativ, dabei sehr anschaulich. Die Bezüge zum Haus hätten intensiver sein dürfen. Aber alles in allem, habe ich diesen Roman gemocht. 

Kategorie: Biographischer Roman
Verlag: Diogenes 2022