Rezension

Ein Interpretationsansatz oder Entstehungsgeschichte hätte geholfen

Familienleben - Viola Roggenkamp

Familienleben
von Viola Roggenkamp

Bewertet mit 3 Sternen

Es ist 1967, der Zweite Weltkrieg, in dem zahlreiche jüdische Menschen im KZ umkamen, ist seit 22 Jahren vorbei. Damals konnten Hedwig Glitzer und ihre Tochter Alma nur überleben, weil sich der deutsche Paul Schiefer in eine Jüdin verliebt hat.

Die autobiographische Geschichte wird aus der Ich-Perspektive geschrieben. Ob es Bezüge zum Leben der Autorin gibt, ist nicht bekannt. Die Erzählerin Fania ist 13 Jahre alt und wartet darauf ihre erste Menstruation zu bekommen. Ihre große Schwester Vera ist schon 17 Jahre alt und hat sie. Sie hat auch einen Liebhaber, einen verheirateten ehemaligen SS-Mann. Durch diese Liebhaberei versucht sich Vera von der Familie abzunabeln. Denn die Kinder der Familie Schiefer werden von ihrer jüdischen Großmutter Hedwig und ihrer jüdischen Mutter Alma sehr behütet. Die Kinder dürfen nur im Hintergarten spielen, dort sind sie frei. Niemand soll wissen, dass sie (halb)jüdisch sind. Doch dann bricht in Israel ein neuer Krieg aus und die Themen der Schuld, des Traumas und des Überlebens kommen zur Sprache. 

Der Schreibstil dieses Buches ist so verwirrend, dass ich nicht dadurch steigen konnte. Auf was kommt es der Autorin an? Wenn man will, geht es nur um ein pubertierendes Mädchen, dass unbedingt so sein will, wie andere Mädchen in ihrem Alter. Es will seine Tage bekommen, sich mit seinen Freundinnen treffen und hingehen, wo es möchte. Es befindet sich auf der Suche nach sich selbst.
Dies ist aber nicht so einfach. Es geht in dieser Geschichte um den Schatten, den die Vergangenheit auf die Familie Schiefer und ihre Kinder wirft. Die Eltern verliebten sich während der NS-Zeit, der Vater christlich, die Mutter jüdisch. Schließlich hat der Vater alles riskiert, um die Mutter und Schwiegermutter zu retten. Er nahm dafür sogar in Kauf, sich von den Nachbarn anzeigen zu lassen und sich von der Schwägerin aus der eigenen Familie verstoßen zu lassen. Alma und Paul Schiefer mussten beide ins Gefängnis. Sie haben beide überlebt. Was tatsächlich passiert ist, wird immer nur in Happen wiedergegeben. Es scheint aber schon so, als würden Großmutter und Eltern ihren Kindern von dem Erlebten berichten. Nur darf das eben alles nicht nach außen dringen, obwohl die Nachbarn die Geschichte kennen, da sie diejenigen waren, die Alma und Paul verpfiffen haben. 
Vera und Fania leiden unter dem Trauma und dem Unausgesprochenem ihrer Familie. Sie lesen viel, sind klug und sitzen den ganzen Tag aufeinander, so dass sie alle ihren intimsten Geheimnisse miteinander teilen. Beide beginnen im Verborgenen zu rebellieren und ihren eigenen Weg zu finden. Mal fühlen sie sich stärker jüdisch und zu den Frauen in der Familie hingezogen, dann wieder mehr zum Vater. Beide wollen frei sein, doch als sie die Chance bekommen, fühlen sich beide zunächst unsicher.

Zu kritisieren ist der fast expressionistische Schreibstil. Erzählung und direkte Reden gehen nahtlos und ohne Anführungszeichen ineinenader über. Genauso kann ein Satz drei verschiedene Themen aus zwei verschiedenen Perspektiven enthalten. Erzählt Fania gerade noch von ihren Schreibproblemen, mischen sich diese mit der erlebten Vergangenheit der Eltern, um dann was vom Vortag im Jahre 1967 zu berichten. Oft weiß man nicht, um wen es geht und wie wer so plötzlich auf welchen Gedanken gekommen ist. Manchmal fragte ich mich, ob die Stellen intertextuell zu lesen sind. Die Frühreife Fanias erinnerte mich stellenweise an die "Tagebücher der Anne Frank" oder an Freudianische Theorien. Dann fragte ich mich wieder, ob der Schreibstil vielleicht einen Eindruck von jüdischem Humor verschaffen soll. Ein wahres Durcheinander, für das ich keine Erklärung finden konnte. Leider gibt es im Buch keine Hintergrundinfos.