Rezension

Ein kritischer Blick auf die Gegenwart

Betrug -

Betrug
von Zadie Smith

Bewertet mit 5 Sternen

„Der Sinn der Vergangenheit ist es nicht, auf schlechte Menschen zu zeigen, sondern darüber nachzudenken, ob es Analogien zu heute gibt." Wenn man diesen Satz von Zadie Smith während des Lesens ihres neuen Buchs „Betrug“ im Kopf hat, verwundert es nicht, dass sie sich erstmals an einen historischen Roman gewagt hat, denn „nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten (August Bebel)“. Und das sollten sich vor allem diejenigen Briten zu Herzen nehmen, die, wie die Brexit-Abstimmung gezeigt hat, noch immer den ruhmreichen Rule-Britannia- Tagen nachtrauern.

1873, wir sind mitten in der Regierungszeit von Queen Victoria, einer Epoche, in der das Britische Empire auf dem Höhepunkt seiner politischen und ökonomischen Macht ist, wovon in erster Linie die Angehörigen der weißen Oberschicht profitieren. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich könnten nicht größer sein, die einfachen Leute müssen sich wie eh und je abstrampeln, um das Überleben zu sichern.

In den Salons trifft man sich zu Soirees. So auch im Haus des alternden Schriftstellers William Ainsworth, bei dem Charles Dickens regelmäßig zu Gast ist und wo der (historisch verbürgte) Prozess gegen Arthur Orton Gesprächsstoff liefert.

Orton, aller Wahrscheinlichkeit nach ein hochstapelnder Metzgerssohn aus Ostlondon, behauptet, der lange verschollene Erbe der adligen, wohlhabenden Familie Tichborne zu sein und erhebt Anspruch auf das Erbe. Und er bietet mit dem ehemaligen Sklaven Andrew Bogle sogar einen Zeugen auf, der seine Aussagen bestätigen kann, und dessen ergreifende Lebensgeschichte uns mittenhinein in den menschenverachtenden Kolonialismus des britischen Empires versetzt (falls ihr nach London kommt: Im Museum of London Docklands gibt es eine hervorragende Ausstellung mit Schwerpunkt Zucker-Kapitalismus und Sklaverei – unbedingt anschauen!). Und hier schlägt Smith den Bogen zu unserer Gegenwart. Fakten zählen nichts, es ist offensichtlich, dass man ein Schwindler sein kann, aber wenn man über rhetorisches Talent verfügt, hat man die Massen hinter sich, kann sie für die eigenen Pläne instrumentalisieren.

„Betrug“ ist wie erwartet kein typischer historischer Roman, denn dazu sind die behandelten Themen zum einen zu vielfältig und zum anderen zu sehr mit unserer gesellschaftspolitischen Realität verbunden. Und wie immer geht es der Autorin um die Frage, was das Menschsein in Vergangenheit und Gegenwart ausmacht. Sie fordert zum Hinterfragen gegebener Zustände auf, ermutigt zum kritischen Blick auf populistische Strömungen und ist gerade deshalb hochaktuell.