Rezension

Gegenwartsanalyse auf Viktorianisch

Betrug -

Betrug
von Zadie Smith

Bewertet mit 4 Sternen

„Man sah sofort, dass dieser Mann ein Fähnlein im Winde war. Ein Mann ohne Mitte, der sich je nach Lage der Dinge in jede beliebige Richtung bugsieren ließ. Die wässrigen Augen offenbarten deutlich, dass er der Situation nicht gewachsen war, jedoch auch, dass ihn die vielen Menschen freuten und er vollauf bereit war, ihrem Glauben Glauben zu schenken, wo sie ihn doch mit solcher Vehemenz vertraten … Und wenn man es einmal so betrachtete, war es doch empörend, dass überhaupt jemand an ihm zweifelte! Und dennoch: Was, wenn sie ihm auf die Schliche kämen?“

Ein Metzger aus Wapping versucht, sich als Erbe der wohlhabenden Tichbornes auszugeben. Obwohl sein Ziel der Aufstieg in die Ränge des Landadels ist, kommt paradoxerweise – ebenso wie beim Milliardär Trump - die größte Unterstützung aus dem einfachen Volk. Die Fans des „Anwärters“ von 1870 haben viel gemeinsam mit der MAGA-Gemeinde, vor allem ihr Gefühl allgemeinen Betrogenseins, ihre Wut auf die Privilegierten und ihre Verachtung für Fakten. Smith gewährt Trump In ihrem neuen Roman einen kongenialen Auftritt, ohne ihm jemals die Ehre der Erwähnung zu erweisen.

Den eigentlichen Mittelpunkt von „Betrug“ bildet jedoch die kluge Mrs. Touchet, die als Haushälterin für den Cousin ihres verstorbenen Mannes arbeitet. Mrs. Touchets Arbeitgeber, William Ainsworth, ist ein enorm produktiver viktorianischer Romanautor. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verkaufte er mehr Bücher als Charles Dickens; 30 Jahre nach seinem Tod war er so gut wie vergessen.  Mrs. Touchet entwickelt ein zunächst widerwilliges Interesse am Tichborne-Prozess, dem Medienereignis jener Zeit. Nahezu jeder in diesem Prozess, sei es auf der Anklage- oder Zeugenbank, vollbringt das Kunststück, zwei unvereinbare Realitäten mit sich in Einklang zu bringen, allen voran der Kronzeuge des „Anwärters“, der würdevolle und allem Anschein nach integre Mr. Bogle.

Der „Anwärter“ ist der offensichtliche Betrüger in dieser Geschichte. Aber da sind noch einige mehr: Ainsworth, ein Fitzek des 19. Jahrhunderts, der sich selbst belügt und die Literatur zugunsten eskapistischen Schunds verrät. Mrs. Touchet mit ihrer heimlichen lesbischen Neigung und ihren hohen ethischen Ansprüchen, die im entscheidenden Moment zwar für ein halbwegs gutes Gewissen reichen, aber nicht dafür, das radikal Richtige zu tun. Vielleicht deshalb ist sie zunehmend fasziniert vom Mysterium des Mr. Bogle.

Seine Gründe erfahren wir in Form seiner Lebensgeschichte, die die mittleren 100 Seiten des Romans einnimmt und für mich der weitaus interessanteste Teil des Buches war: Bogle ist der Sohn eines afrikanischen Prinzen, in Gefangenschaft auf Jamaica geboren. Interessant fand ich auch meine eigene Reaktion auf die Figur: Trotz seiner offensichtlichen Lügen war ich den gesamten Roman hindurch zutiefst verwirrt durch den Anschein seiner Ehrlichkeit. Eine milde Form der Faktenvergessenheit, ähnlich wie bei der Klientel des „Anwärters“.

Aber Smiths Roman verhandelt noch eine Reihe weiterer aktueller Themen. Das Konzept des Medienhypes und der Fake News. Den unkritischen Fortschrittsglauben des immer mehr, immer größer. Die Verquickung von Konsum und Kolonialismus. Die Illusion der „geschenkten“ Freiheit – als habe irgendjemand die Macht, das Grundgut der Freiheit zu gewähren oder zu verweigern. Sogar die Impfgegner kommen vor – zeitgemäß bezogen auf die Pockenimpfung, die zu verweigern bodenlos dumm wäre. Das Schreiben an sich, das „Lügen, um die Wahrheit zu sagen“. Frauenrechte und Patriarchat. Unsere Blindheit gegenüber den eigenen Privilegien.

Trotz aller thematischen Schwere hat der Text eine erstaunliche Leichtigkeit. Dazu trägt die Kürze der vielen Kapitel bei, aber vor allem natürlich Smiths meisterhafte Prosa, die das Komische ebenso beherrscht wie das Philosophische. Der ganze Roman ist ein einziger Triumph der Sprache. Nur: Er ist zu lang und zu komplex. Es ist wie mit einer vermeintlich luftigen Sahnetorte, die man durchaus mit Genuss verspeist – aber auf der Hälfte wünscht man sich um der Verträglichkeit willen, es gäbe weniger davon.

Smith hat gründlichst recherchiert und Einiges an wörtlicher Rede aus den Originalaufzeichnungen des Prozesses übernommen. Aber die jahrzehntelange Vita Ainsworths, Bogle und sein Sklavenelend  wie auch das öffentliche Drama des Prozesses werden lediglich durch die Wahrnehmung von Mrs. Touchet zusammen gehalten. Es entstand kein Gefühl der Kohärenz bei mir, eher eine Art konstanter Konfusion, wozu auch die zeitweilig undurchsichtige Chronologie beitrug. Die Figur der Mrs. Touchet jedoch entschädigt für vieles – sie ist eine so vielschichtige, widersprüchliche und lebendige Frau, wie sie einem selten zwischen zwei Buchdeckeln begegnet.

Vor allem darum fand ich den Roman insgesamt enorm bereichernd, aber nicht nur: Ich verneige mich vor dem literarischen Können Smiths und ihrer scharfsinnigen Analyse der Gegenwart mit den Mitteln eines historischen Romans.