Rezension

Ein Leben auf der Schattenseite der 20er Jahre

Die chinesische Sängerin - Jamie Ford

Die chinesische Sängerin
von Jamie Ford

Bewertet mit 4.5 Sternen

Es ist der 28. September 1934 und Williams 12. Geburtstag – sowie auch der Geburtstag aller anderen Jungen im Sacred-Heart-Waisenhaus in Seattle, weil es so praktischer ist… Nur an ihrem Geburtstag dürfen die Kinder nach ihren Eltern fragen und dieses Jahr erfährt William mehr als sonst. Er selbst hatte seine Mutter als 6-Jähriger leblos in der Badewanne gefunden und gesehen, wie sie mit dem Krankenwagen abtransportiert wurde. Nun sagt ihm die Priorin, dass seine Mutter nach dem Krankenhaus in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde, die sie "niemals verlassen hat".

Am Nachmittag gehen die Jungen alle gemeinsam ins Kino; das ist einmal im Jahr die einzige Gelegenheit, zu der sie das Waisenhaus verlassen dürfen. Im Kino sieht William auf der Leinwand eine Sängerin, dessen Stimme er besser als alle anderen kennt - er ist überzeugt davon, dass die Sängerin Willow Frost eigentlich Liu Song heißt … und seine Mutter ist. Zusammen mit seiner Freundin Charlotte reißt er aus dem Waisenhaus aus, um herauszufinden, ob sie es wirklich ist und warum sie ihn verlassen hat.

Williams Geschichte ging mir sehr zu Herzen. Einerseits scheint er für sein Alter sehr reif zu sein, was vielleicht daran liegt, dass er und Charlotte Außenseiter im Waisenhaus sind. William ist der einzige Asiate, Charlotte ist blind. Auch die Freundschaft der beiden ist sehr anrührend. Für beide ist es so selbstverständlich, füreinander da zu sein und sie stellen ihre Beziehung zueinander nie in Frage. Wenn es aber um seine Mutter geht, ist William sehr naiv, was nur natürlich ist, da er sie als 6-Jähriger zum letzten Mal gesehen hat und Mütter im Waisenhaus unbekannte Wesen sind.

Neben Williams Suche nach seiner Mutter besteht der Roman aus Rückblenden in Liu Songs Leben. Als Chinesin und unverheiratete Mutter in den 20er Jahren wird sie doppelt geächtet, ihre Eltern sind tot und sie muss sich ihrem "Onkel" unterordnen. Beim Lesen ihrer Geschichte habe ich die Ungerechtigkeiten oft kaum ausgehalten.

Der Roman lebt von vielen Gegensätzen: Liu Songs Vergangenheit, in der sie oft selbst für das Nötigste kein Geld hatte und ihr späteres glamouröses Leben als Willow Frost; die 20er Jahre in den USA mit ihrer Armut und daneben die glitzernde Kino- und Revuewelt und die rasante Entwicklung des Filmgeschäfts; Weiße und Asiaten; Männer und Frauen…

Jamie Ford ist ein toller Erzähler und bringt dem Leser die Zeit zwischen 1920 und 1934 mit viel Einfühlungsvermögen nahe. Trotzdem ist mir Liu Song fremd geblieben und ich konnte ihre Handlungsweise bis zuletzt nicht richtig verstehen. Außerdem kam das Ende an einer Stelle der Handlung, wo ich das Gefühl hatte, in der Luft hängen zu bleiben. Irgendetwas hat gefehlt.

Trotz der leichten Enttäuschung am Ende ist "Die chinesische Sängerin" aber ein Buch, das mir im Gedächtnis bleiben wird. Wenn ich in Zukunft etwas über Amerika in den 20er Jahren höre oder lese, werde ich das immer mit Liu Song und William in Verbindung bringen.