Rezension

Ein Mann und sein Kiez - Ost-Berlin in den 60ern und den 90ern

Skandinavisches Viertel - Torsten Schulz

Skandinavisches Viertel
von Torsten Schulz

Bewertet mit 3.5 Sternen

Matthias Webers Streifzüge durch seinen Kiez enden im Ostberlin der 60er häufig vor den Stiefeln eines Grenzpostens; denn er wohnt im Skandinavischen Viertel  in Sichtweite des Grenzübergangs Bornholmer Straße. Die Grenzer sind meist junge Männer aus der Provinz, die keine Ahnung haben, was im Kopf eines Zwölfjährigen vor sich geht, der „Grenze kieken“ geht. Matthias fragt sich, welchen Sinn die Straßennamen haben und spinnt in Gedanken weiter, viel mehr Straßen skandinavische Namen zu geben. Vater Horst Weber reagiert gereizt auf das Lieblingsthema seines Sohnes, fragt sich, warum Bücher nicht gleich verboten werden über Länder, in die man aus der DDR sowieso nicht reisen darf. Das heikle Thema Skandinavien – Matthias kann das nicht ahnen – ist eng mit Horsts Bruder Winfried verknüpft, der sich als Arbeiter auf einer Zirkus-Tournee nach Finnland sinnlos betrunken hat. Seitdem ist die Grenze endgültig dicht für Winfried. Er lebt wieder bei seinen Eltern, ein Parasit, über den sein Bruder ungern spricht.

Der zwölfjährige Matthias wurde bisher bewahrt vor der Welt außerhalb seines kindlichen Kosmos. Die schwere Krankheit der Mutter wird ihm ebenso verheimlicht wie der KZ-Aufenthalt seines Großvaters noch nach 1945, als Deutschland theoretisch längst „befreit“ war. An dieser Unfähigkeit sich zu erinnern leidet das Land noch immer. Allein eine Andeutung hat sein Vater fallen lassen, dass Mattias vielleicht später beruflich ins westliche Ausland reisen dürfe, wenn er in der Schule immer fleißig wäre. Mattias vermisst noch nicht, was Richtung Westen hinter Mauer, Stacheldraht und scharfen Wachhunden liegt. Gescheiterte Träume vom Ausbruch, die Vater und Onkel  träumten, erschließen sich ihm nur stückweise, wenn sich ein Erwachsener verplappert. In der Schule lernt Matthias, dass die Sehnsüchte seines Vaters reaktionär seien.

Dem Thema Winfried begegnen wir nach der Wende auf einer zweiten Zeitebene wieder. Matthias arbeitet  nach einigen Jahren im Ausland inzwischen als Makler in seinem alten Kiez. Die Wohnung seiner Großeltern hat er gekauft und lebt darin mit dem noch immer unberührten Zimmer von Winfried.  Matthias schafft sich eine kleine gentrifizierungsfeindliche  Nische, indem er  Wohnungen an Käufer vermittelt, die sie seiner Meinung nach verdienen, gern an Alternative, nicht an Investoren.  Die Vermittlungen laufen wie Handeln im Bazar, Käufer müssen den auf dieser Bühne gewünschten Text kennen und Mattias erzählt Legenden, von denen er annimmt, seine Kunden würden sie erwarten. Doch Spekulanten schlafen nicht und kennen den Text inzwischen auch.

Ein Mann, der für seinen Kiez wie für eine Geliebte fühlt. Der Zugang zu Thorsten Schulz‘ Figuren fällt nicht leicht; denn er setzt einen Perspektivwechsel voraus in die Zeit der deutschen Teilung.  Lesern, die die Mauer nicht mehr aus eigener Anschauung kennen, erleichtert Mattias konsequent kindliche Sichtweise den Wechsel in seine Welt nicht gerade. Lässt man die Handlung jedoch sacken, bleibt die Erinnerung an eine Geschichte von Verschweigen und Verrat, in der Horst Weber in den 60ern ein hohes Risiko eingeht mit dem, was er seinem zwölfjährigen Sohn von sich preisgibt.