Rezension

Ein Meilenstein der Kriminalliteratur

Der letzte Zug nach Schottland -

Der letzte Zug nach Schottland
von Josephine Tey

Bewertet mit 4.5 Sternen

Alan Grants Chef Bryce hatte ihn darin bestätigt, nach seinem psychischen Zusammenbruch einige Wochen in Schottland beim Angeln zu verbringen. Der Londoner Ermittler  liebt die Gegend um Clune südlich von Inverness und hat beste Beziehungen, weil seine Cousine Laura dort mit Mann und Sohn lebt und ihn aufnehmen wird. Laura ist mit Alans Jugendfreund verheiratet und versucht bei jedem Besuch, Alan zu verkuppeln. Sein jüngerer Cousin (Neffe?) vergöttert ihn, so dass dem gemeinsamen Angelabenteuer im Turlie nichts entgegensteht. Als Leser könnte man sich an diesem Punkt bereits wundern, wie selbstverständlich und verständnisvoll alle Beteiligten mit Alans Psychischer Erkrankung umgehen – in einer Handlung, die vor 1952 spielt. Ob Laura Kriegsversehrte betreut hat oder früher in der Psychiatrie gearbeitet? Dass Alan sich so zurückhaltend und häppchenweise zu seiner Situation äußert, heizte für mich die Spannung in Josephine Teys 6. Band der Alan-Grant-Serie gehörig an. Ich befürchtete, dass er mindestens auf dem Weg in eine psychiatrische Klinik oder zum Antritt einer Haftstrafe unterwegs war …

Kurz vor Ankunft des „Flying Highlanders“ am Ziel wird jedoch in einem Erster-Klasse-Abteil ein Toter gefunden, der etwas zu zügig von Angehörigen in Frankreich als der Mechaniker Charles Martin identifiziert wird. Grant hat vom Fundort des Toten unbewusst eine Zeitung mitgenommen, auf die jemand handschriftlich einen Gedichtanfang vom „singenden Sand“ gekritzelt hat. Der Fall und die Textzeile lassen den Urlauber nicht wieder los, der inzwischen nicht mehr verbergen kann, dass er bei der Army „gedient“ hat und in der Gegenwart als Inspector bei Scotland Yard arbeitet. Mit „einem Verstand wie eine Rechenmaschine“ und dem Talent, seine Gedanken fließen zu lassen, gibt er den idealen Ermittler. Grant erhält Rückenwind, als sich auf seine Kleinanzeige hin ein alter Freund des Toten meldet – nur hat der ihn unter einem anderen Namen gekannt. Beide fühlen sich verpflichtet, dessen Schicksal aufzuklären, indem sie der Frage nachgehen, warum er nach Schottland reiste und wer von seinem Tod profitieren würde. Alans Beschäftigung mit dem Singenden Sand wird bald zur Obsession, führt jedoch noch lange nicht zur Lösung des Falls.

Fazit

Mit Alan Grant hat Josephine Tey bereits in den 50ern des vorigen Jahrhunderts den Typ des psychisch belasteten einzelgängerischen Ermittlers geschaffen, im Gegensatz zu den bis dahin im Kriminalroman gewohnten selbstbewussten wie effektiven Star-Ermittlern. Zu einer Zeit, als man täglich noch mehrere Zeitungen las, Leserbriefe an die Zeitung schrieb, wie anonyme Mitteilungen an die Polizei,  dauerten Grants Ermittlungen allein deshalb ihre Zeit, weil er das Kursbuch wälzen und sich per Eisenbahn und Fähre auf den Weg zu Zeugen begeben musste.

Über Grant wird vieles nur angedeutet, das man sich beim Lesen selbst zusammenreimen muss. In ihrem aufschlussreichen Nachwort erläutert Val MacDermid, dass sie selbst von Tey gelernt habe, über den reinen Kriminalfall hinaus im Krimi Einstellungen und Entwicklungen anzudeuten, an denen ihr liegt. Das Verhältnis zwischen Alan, Laura und Tommy können als Beispiel für ungewohnte Rollenmuster stehen, die Figur der verwitweten Zoe, wie auch Beziehungen zwischen weiteren Figuren, die in den 50ern höchst ungewöhnlich gewesen sein müssen. Josephine Teys Krimiserie kann als Meilenstein in der Kriminalliteratur gesehen werden. Mit Val MacDermids Interpretation im Ohr eine ungewöhnliche Zeitreise in die 40er und 50er Jahre.

Die Ausgabe

1952 im Original erschienen, deutsch bei Dumont 1988 und 2000 als „Der singende Sand“. Dieser 6. Band ist der 3. neu bei Oktopus erschienene.