Rezension

Ein ruhiger und tiefgründiger Roman

Der Himmel über Appleton House - S. E. Durrant

Der Himmel über Appleton House
von S. E. Durrant

Für mich sind die Empfindungen eines Kindes, welches seine Eltern verloren hat, etwas Unvorstellbares. Plötzlich werden die zarten Wurzeln, die ihm bisher den nötigen Halt gaben, ausgerissen. Unvorstellbar ist es auch, dass ein Kind nach dieser traumatischen Erfahrung wieder einen Ort und eine Familie finden kann, bei denen es sich geborgen fühlt. Das Gefühl von sicherem Halt und Geborgenheit hat Ira, die literarische Hauptfigur aus „Der Himmel über Appleton House“, nie kennenlernen dürfen. Nachdem sie und ihr kleiner Bruder Zac von ihren Eltern zur Adoption freigegeben wurden, führten beide ein sehr rastloses Leben. Sie wurden von einer Pflegefamilie in die nächste gegeben. Immer, wenn sie sich an ihre neuen Pflegeeltern gewöhnt hatten, mussten sie erneut umziehen. Seit ihrem letzten Umzug prasseln viele neue und ungewohnte Dinge auf sie ein. In "Skilly House" werden beide Geschwister mit einem für sie neuen Leben konfrontiert, denn dieses Waisenhaus beherbergt nicht nur zahlreiche Kinder, sondern auch viele Erwachsene, die ihnen viel Herzlichkeit und eine Beständigkeit entgegenbringen. Trotz der Liebe und des Halts, den Ira und Zac dort erfahren, wächst tief in ihnen die Sehnsucht nach einem richtigen Zuhause.

Als ich in der Programmvorschau des Königskinder Verlags den Klappentext zu „Der Himmel über Appleton House“ von S. E. Durrant las, wusste ich, dass ich dieses Buch lesen muss, weil ich sehr gerne tiefgründige Geschichten über bewegende Schicksale lese. Besonders, wenn sie aus der Perspektive eines Kindes erzählt werden.
Obwohl die Beschreibung des Inhalts für meinen Geschmack etwas zu viel von der Handlung verrät, konnte ich die Geschichte ganz unbefangen lesen, weil genügend Zeit vergangen war und ich mich nicht mehr an alle Details erinnern konnte.

Nach einer kurzen Einführung in ihr bisheriges Leben entführt Ira uns nach "Skilly House". Hier werden wir Leser mit dem Alltag in einem Waisenhaus vertraut gemacht, erfahren aber auch viel von den äußeren Umständen Großbritanniens Anfang der 1990`er Jahre.
Obgleich Ira uns durch die Handlung führt, lernen wir Leser - dank ihrer vortrefflichen Beobachtungsgabe und ihrer Ausdruckskraft - sehr viel über die Menschen, die sie umgeben. Vordergründig wird jedoch die Beziehung der Geschwister Ira und Zac abgehandelt. Beide sind wie Feuer und Wasser und ihre Blickwinkel auf die Geschehnisse absolut konträr. Jeder bewältigt sein Schicksal auf eigene Weise und doch ergänzen sie sich perfekt. Durch Ira und Zac erfährt man wie eine erschütternde Erfahrung ein Kind verstören und ihm fast alle Hoffnungen auf ein Wunder nehmen kann. Umso schöner war es für mich, dass ich miterleben durfte, wie ein wunderbares Ereignis die Hoffnungen der Geschwister erblühen ließ.

"Der Himmel über Appleton House" von S. E. Durrant, Jugendbuch, Kinderbuch
Faszinierend war für mich die literarische Hauptfigur Ira, die trotz ihrer kindlichen Sprache auf so reife und ausdrucksvolle Weise über ihr Leben berichtet. Ira ist die "Große", die Verantwortung für ihren kleineren Bruder übernimmt - immer darauf bedacht, dass Zac nie von anderen missverstanden wird. Leider bleibt bei den vielen Sorgen um Zac eine auf der Strecke: die um sich selbst. Ira wirkt anfangs so abgeklärt und desillusioniert. Und doch schwingt zwischen den Zeilen eine tiefe Sehnsucht nach einer richtigen Familie mit. Mit jedem gelesenen Kapitel erlaubt Ira sich, ein bisschen mehr zu träumen und zu hoffen.

In einer Rezension über dieses Buch las ich, dass die Verfasserin die Geschichte mit dem Wort still beschrieben hat. Dem muss ich deutlich widersprechen, denn obgleich sich die Handlung zeitweise in einem gemächlichen Tempo durch diese Geschichte zieht ist das, was die Ich-Erzählerin Ira zum Ausdruck bringt, alles andere als still. Ihre Träume, Hoffnungen und ihre mannigfaltigen Emotionen haben mich als Leserin buchstäblich angebrüllt. Und da gab es noch etwas Verblüffendes: Noch nie hatte ich einen Roman gelesen, dessen Handlung so ruhig verlief und mir trotz dieser Beschaulichkeit eine tiefe Ruhelosigkeit vermittelte, die sich auch auf mich übertragen hat.

„Der Himmel über Appleton House“ von S. E. Durrant ist trotz des sehr emotionalen Themas ein sehr ruhiger und tiefgründiger Roman, der nicht nur durch seine ausdrucksstarke Erzählerin begeistert.

www.kathrineverdeen.blogspot.de