Ein Überlebender in New York
Bewertet mit 4.5 Sternen
„Wie eine Litanei zwang er sich die Regeln des Lebens auf: Du lebst, du isst, du schläfst, du schützt dich.“ (S. 214) So scheint das Leben des Pfandleihers Sol Nazerman auszusehen. Bloß keine Gefühle tolerieren, nichts zulassen, was im Inneren gärt, nichts aussprechen, was erinnert!
Er ist Überlebender des Holocaust, seine Frau und seine beiden Kinder wurden getötet. Aus seiner Zeit im KZ hat er furchtbare Erinnerungen nach Amerika mitgebracht, die ihn in seinen schlaflosen Nächten heimsuchen.
Er lebt bei seiner Schwester und deren Familie, für die er den Goldesel spielt. Das weiß er, doch er kauft sich praktisch frei, finanziert die Ausbildung der Kinder, die medizinische Betreuung für den Schwager und die Wünsche seiner Schwester. Im Gegenzug lässt man ihn in Ruhe trotz halbherziger Versuche, ihn ins Familienleben zu integrieren. Ab und zu besucht er eine Frau, an die er emotional nicht gebunden ist und der er Geld hinterlässt, wenn er geht.
Sein Pfandhaus, in einem Armenviertel mit überwiegend schwarzer Bevölkerung gelegen, läuft blendend, vor allem, weil eine Mafiaorganisation Sols Geschäft mit seinem Einverständnis zur Geldwäsche missbraucht. Sol ist ein harter Geschäftspartner, der sich auch gegenüber den elenden Gestalten, die ihren Hausrat und ihre letzten Habseligkeiten versetzen, zu keinerlei Mitleid oder Großzügigkeit hinreißen lässt.
Sein Gehilfe Jesus Ortiz ist ein Junge aus dem Viertel. Obwohl Sol zugeneigt und begierig, von ihm zu lernen, plant er mit einer Gruppe anderer Jugendlicher offenbar etwas, das das Pfandhaus oder Sol bedroht.
Ein über 300 Seiten langes Psychogramm eines Mannes, der nicht mehr leben will, nicht mehr leben kann und doch alles daran setzt zu überleben. Bis zur Hälfte des Buches nimmt man als Leser nur an Sols Alltag, an seinen wenigen Gewohnheiten und seinen schmerzlichen und oft konfusen Gedanken teil, die immer mehr auch seine körperliche Gesundheit beeinträchtigen.
Dennoch zeigt er bisweilen einen Einsatz, der ihn herausfordert: Für sich selbst oder die Frau, mit der er schläft. Lässt auf der anderen Seite eine Frau, die sich für ihn interessiert und die ihm gefällt, übel abblitzen.
Trotz der relativen Ereignislosigkeit der Handlung ist das Buch nicht langweilig; der Autor schwört den Leser auf seinen Protagonisten ein, lässt ihn dicht neben ihm gehen, die Gedanken mitdenken und eine scheinbare Lebensüberdrüssigkeit, hinter der sich tiefe Verzweiflung versteckt, mitfühlen.
Die Träume in Sols Nächten: Vorfälle aus der Nazi-Zeit, Folter, Erniedrigung, Unmenschlichkeit. Das Verbrennen der Leichen. Die Angst, zwischen den Toten auf ein bekanntes Gesicht zu stoßen. Augenzeuge bei Gewalt gegen seine Frau. Auch wenn man schon ungezählte Zeugnisse der Opfer gelesen hat, sind die Schrecken wieder da, und mit Sol atmet man nach einer traumlosen Nacht auf.
Es geht augenscheinlich immer mehr bergab mit ihm, mit seinen verzweifelten Gedanken, die ins Verwirrte abgleiten, und den körperlichen Symptomen.
Im letzten Drittel streut der Autor Szenen ein, die von Treffen der jungen Männer mit Ortiz erzählen. Ohne dass explizit deren Pläne erklärt werden, spürt man eine Gefahr auf Sol zukommen. Die Perspektive verdichtet sich: Schlaglichtartig werden andere Figuren beleuchtet und ein kurzes Stück ihrer Zeit vor der Katastrophe.
Anrührend das Ende.
Übrigens: Wer über das Unwort „Neger“ stolpert, kann beim Nachwort der Übersetzerin seine Empörung beenden.