Rezension

Ein Winter in Alaska

Die Stille unter dem Eis - Rachel Weaver

Die Stille unter dem Eis
von Rachel Weaver

Anna und Kyle haben sich beim Trampen kennengelernt. Sie kennen sich noch nicht besonders lange, aber sie fühlen sich wohl zusammen. Immer, wenn Anna neben Kyle schläft, bleiben ihre Albträume fern. Genauer gesagt: der eine Albtraum von jenem Tag auf dem Eis. In der Gletscherspalte. In der Kälte und Enge und Dunkelheit. Die Gletscherspalte mit den zwei Blutstropfen. Als die beiden in Alaska den Job angeboten bekommen, für neun Monate im Leuchtturm zu wohnen und ihn instand zu halten, sagen sie zu, ohne zu wissen, was das raue Wetter und die Einsamkeit mit ihnen machen werden. 

Anna und Kyle haben beide ihre Geheimnisse, ihre dunkle Vergangenheit. Aber sie haben sehr verschiedene Arten, damit umzugehen. Anna sucht die Isolation und gleichzeitig die Nähe zu dem Ort, an dem es passiert ist. Vom Leuchtturm aus kann sie jenen Gletscher sehen. Sie hofft, ihn zeichnen zu können, um so die schrecklichen Gefühle abzuschütteln. Sie liebt die Abgeschiedenheit des Leuchtturms, das einfache Leben, die körperliche Arbeit, den lauten Wind, den Regen. Sie sieht es als ihre grechte Strafe an, so wie der Mann, der vor ihnen hier gelebt hat und dann plötzlich vor 20 Jahren verschwunden ist. Er übt eine starke Faszination auf Anna aus, denn sie denkt, dass sie beide viel gemeinsam haben. Sie fragt sich, ob er im Leuchtturm gefunden hat, was er suchte. Ob es ihm besser gehen. Denn insgeheim hofft sie, dass der Leuchtturm auch sie heilen kann.

Kyle ist anders. Der Regen macht ihm zu schaffen, der Wind macht ihm zu schaffen, die Kälte, die Isolation. Er hat das Gefühl, durchzudrehen, braucht eine Beschäftigung, will so oft wie möglich die riskante Reise mit dem Boot in die Stadt unternehmen. Er kann Annas Faszination für William Harris, den Vorbesitzer, nicht versteht, wird regelrecht wütend, wenn sie ihne rwähnt. Er wird immer abweisender, ihr Leben besteht aus Arbeit, Sex und Streit. Aber auch er trägt sein Päckchen mit sich herum, von dem er Anna nichts erzählt, und er hatte mehr Gründe, den Job anzunehmen (oder abzulehnen), als sie ahnt.

Die Geschichte wird aus Annas Sicht erzählt und schwangt zwischen dem Jetzt, das im Leuchtturm spielt und der Vergangenheit, in der nach und nach erzählt wird, wie es zu dem Unglück mit der Gletscherspalte kam. Die Informationen, die man als Leser so dringend haben möchte, werden nur tröpfchenweise herausgegeben. Es dauert lange, bis man dahinterkommt, was geschehen ist. Warum Anna ist, wie sie ist. Was mir so gefällt ist, wie dicht der Roman ist, wie lebhaft, wie echt. Annas Gefühle, die immer wiederkehrende Beschreibung von Wind, Regen, Kälte und Angst rufen Beklemmungen hervor. Man leidet mit ihr, man bangt mit ihr um ihre Beziehung, um ihren Seelenfrieden, um ihre Zukunft. Das Eis spielt eine unglaublich große Rolle und je länger mal liest, desto mehr hat man das Gefühl, dass die Kälte aus dem Buch unter die eigene Haut kriecht. Und gleichzeitig ist man froh, gemütlich im Warmen zu sitzen, während Anna ständig der Kälte ausgesetzt ist. Der Kälte der Natur, der Kälte von Kyle, der Kälte in ihrem Inneren. Und man hofft, dass der Leuchtturm ihr geben kann, was sie so dringend benötigt. 
 

(c) Books and Biscuit