Rezension

Eine Geschichte in Fehlfarben

James -

James
von Percival Everett

Bewertet mit 5 Sternen

Berühmte Gemälde, oder Fotos bekommen in der Popart mit Fehlfarben noch einmal einen ganz anderen Ausdruck. Bedecktes tritt hervor, Selbstverständliches erfährt Widerspruch mit ungewöhnlichen Colorationen. Vertraute Bilder erscheinen plötzlich in einem neuen Licht.

Everett hat sich den Schlüsselroman der amerikanischen Literatur, "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" von Mark Twain, genommen und umgestaltet. Nah am Original durchläuft er mit seinem Roman Hucks Erlebnisse am und auf dem Mississippi, doch diesesmal lässt er den Sklaven Jim erzählen und Huck schlüpft in die Rolle des zeitweisen Wegbegleiters.

Aber Jim ist gebildet, er kann nicht nur lesen und schreiben, eine Fähigkeit, die, sollte sie von den Weißen entdeckt werden, den sicheren Tod bedeuten würde, sondern kennt auch die Ansichten und Überlegungen der toten Staatsmänner und Philosophen. Sie erscheinen ihm im Traum, wo er mit ihnen Fachgespräche führt, in einer Sprache, die das Bildungsniveau von manchem Weißen übertrifft. Seinen Landsleuten bringt er ebenfalls das Lesen bei, doch sobald ein Weißer auftaucht, spielt er den tumben Sklaven, der nichts versteht und seinem Herren niemals in die Augen schaut. Hier ist ein dickes Lob für die Arbeit des Übersetzers Nikolaus Stingel angebracht, der ein praktisch zweisprachiges Buch ebenso in zwei verschiedene deutsche Sprachen übersetzen musste, dabei lesbar bleiben und den Aussagewert dabei nicht aus den Augen verlieren durfte. Gut gemacht!

Als Jim von Huck erfährt, dass er verkauft werden soll, flieht dieser Hals über Kopf auf eine Insel mitten im Fluß. Sein Plan ist es, den Norden zu erreichen, wo Sklaven frei sein können, dort Geld zu verdienen und seine Frau und seine kleine Tochter freizukaufen. Aber Huck ist auch geflohen. Er will Abenteuer erleben. Diese fatale Gleichzeitigkeit des Verschwindens eines Halbwaisen und eines Sklaven, veranlasst die Menschen zu glauben, dass Huck tot sei und Jim sein Mörder. Beide machen sich auf einem gestohlenen Kanu und einem Floß auf die Reise. Jim entwickelt eine seltsame Sorgepflicht für Huck. Auf dem Weg werden sie auseinandergerissen, finden sich wieder, nur um abermals in lebensgefährliche Bedrohungen zu geraten.

Anders als in dem Abenteuerroman von Twain, sieht sich Jim den realen Gefahren der Sklaverei ausgesetzt. In der Abwesenheit Hucks verliert er nicht nur seinen jugendlichen Bewunderer, dem er Stärke und Abgeklärtheit beweisen muss, sondern auch seinen weißen Spion und Kundschafter. Stattdessen führt ihm die Welt außerhalb seiner gewohnten Umgebung drastisch vor Augen, welche Abgründe die Unmenschlichkeit haben kann. Tod und Leid liegen auf dem Weg, ein gestohlener Bleistift ist Grund genug, seine Haut zu verlieren. Aber auch die Varianten des Schwarzseins, die Ambivalenzen der weißen Bevölkerung, Zusammenhalt, aber auch Illoyalität bestimmen Jims Verhalten.

Raffiniert baut Everett seine Fehlfarben in Twains Geschichte, die als Abenteuerroman aus einer anderen Perspektive, oder aber auch als Analyse gelesen werden kann. Jim wird zu James und damit wird ein Jugendroman erwachsen. Eine Art Fanfiktion mit philosphischen Tiefgang, eine Untermauerung eines Konflikts, den Twain angedeutet hat, Everett offen vorlegt und der Leser wünschenwerterweise verinnerlichen kann. Der Roman provoziert, aber wenn der Nebel des Ärgers verflogen ist, darf man sich genüsslich über die eigenen Vorurteile und Erwartungshaltungen beugen und sich fragen, warum der eigene Standpunkt so schwer zu überwinden ist.

Die Frage bleibt, ob man Twains Werk kennen sollte - so mancher Sprung in der Story würde sich erklären - ,oder ob es Lust auf die Erstlektüre des amerikanischen Literaturkanons macht. Mögen des Autors Aussagen mehrdeutig erscheinen, aber Everetts Reverenz an Mark Twain ist eindeutig.