Rezension

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Eine Geschichte mit viel Potential

Schatten der Dunkelheit
von Eve Pay

Titel und Cover finde ich gleichermaßen ansprechend. Der dunkle Hintergrund passt zum Titel und zur Thematik des Buches. Wenn der Schatten des Lichts dunkel ist, ist der Schatten der Dunkelheit licht. Deshalb die hellen Flügel auf dem Cover. Das bisschen Farbe darauf macht jedem gleich klar, dass es sich dabei nicht lediglich um ein Schwarz-Weiß-Bild handelt. Wer weiß, vielleicht kommt ja mit jedem Band mehr Farbe dazu, bis die Finsternis vollends vertrieben ist? Auch der Klappentext macht neugierig und Lust auf mehr.

Eine faszinierende Geschichte rund um die Macht der Liebe:

Estelle kommt aus der heutigen Menschenwelt in eine Welt, in der die Frauen noch geschnürte Mieder tragen. Sie ist wie ein leuchtender Fleck in einem Sepia-Bild, hat von nichts eine Ahnung und tappt in so manches Fettnäpfchen.
Ihr gegenüber der abgeklärte Corvin. Finster, sarkastisch, gefangen im eigenen Leid und doch ein Held.
Die kurzen Einschübe, in denen seine Gedanken und Gefühle dargestellt werden, finde ich sehr schön geschrieben. Ein Auszug daraus dient ja auch als Klappentext für das Buch.

Köstlich:
Die Beziehung zwischen Corvin und Estelle finde ich schön beschrieben. Ich mag die Bemerkungen, mit denen er sie neckt und Andeutungen macht, die sie in Verlegenheit bringen. Köstlich in diesem Sinne ist die Szene vor dem Aufzug, mit dem sie aus der 3. Zone in die Todeszone gelangen wollen.
Sehr gut gefallen mir darüber hinaus die Gedanken von Estelle, die immer in Cursiv dargestellt werden. Oftmals trockene Kommentare zum aktuellen Geschehen. Sie bringen dem Leser das Mädchen näher und regen zum Schmunzeln an.
Köstlich auch die Szene bei ihrer Ausreise in die dritte Zone vor dem Schalter, bei der sie den Reduco über Sex aufklärt. (Hier nicht in Gedanken, sondern in echt) kicher!

Symbolisch:
Das Buch an sich ist sehr düster. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Stadt in Dunkelheit versinkt. Jeder hungert nach Licht und Liebe, dabei ist der Kanzler gerade dabei, eben dies beides systematisch zu zerstören.
Die Bedrohung, die von einer ewig finsteren Welt ausgeht, ist wirklich hautnah spürbar. Dazu dieses schreckliche Eisengestell, auf dem die Stadt aufgebaut ist. Ein Sinnbild für die Gesellschaft, die sich schon so ewig weit von ihrem Ursprung, dem Boden, entfernt hat.

Spannend:
Eigentlich erscheint alles völlig aussichtslos. Die Dunkelheit und das Böse sind allgegenwärtig. Was soll da eine einzelne Aurion, die dazu noch ‹verunreinigt› ist, und ein kranker Sarafin dagegen unternehmen? Also eine Geschichte mit unwahrscheinlich viel Potential, bei der man wissen will, wie es weitergeht.

 

Leider lässt der Schreibstil der Autorin einiges zu wünschen übrig. Ich persönlich fühle mich als Leser für blöd verkauft, wenn mir solche Sätze geboten werden:
«Lior sackte zu Boden, erschöpft vergrub er sein Gesicht in den Händen. Sein Körper erbebte unter der Last der Ereignisse.»
An dieser Stelle will ich lediglich wissen, dass er zu Boden sinkt, sein Gesicht in den Händen vergräbt und dass sein Körper erbebt. Die Erklärung dazu kann ich mir durchaus selber denken, zumal sein gestöhntes: «Dann ist alles vorbei» selbstredend die Richtung weist. Diese überflüssigen Adjektive ziehen sich durch das ganze Buch und zerstörten mir stellenweise wirklich das Lesevergnügen.

gespoilt:
An anderen Stellen spoilt die Autorin ihren eigenen Spannungsbogen. Estelles dunkle Vorahnungen wecken im Leser bereits den Verdacht, dass die Dinge nicht so sein könnten, wie sie scheinen. Das ist schade. Sie hätte ihn knallhart erwischen können, so dass er aus allen Wolken fällt.

Befremdend:
Dass die Autorin in ihrem Buch den Kanzler eine eigene Perspektive zugesteht, befremdet mich. Normalerweise verleiht ein Autor dem Bösewicht nur dann eine Stimme, wenn er dem Leser zeigen will, dass dieser nicht nur böse ist, weil es Gründe für sein Handeln gibt. In diesem Fall kann davon jedoch keine Rede sein. Der Kanzler liebt die Angst und das Leiden der anderen. In ihm ist nichts Menschliches mehr geblieben. Um das zu zeigen, reicht allein die Beobachtung einer einzigen Szene, in der dieser Kanzler agiert, da muss ich nicht in ihn hineinschauen.

Unrealistisch:
Die Entscheidung von Estelle allein loszuziehen, um in die Halle zurückzugelangen und dort (vielleicht) wieder das Tor zu erschaffen, ist mehr als unglaubwürdig. Sie hat mitbekommen:
- wie gefährlich es ist, diese Stadt zu durchqueren
- dass die Portale alle geschlossen sind
- dass die Halle bewacht wird
Außerdem hat sie die Sache nicht mit Lior und Bartisam besprochen und letzterer hat ihr doch versprochen, sie wieder nach Hause zu bringen.
Außerdem: Was will sie zu Hause? Die Sehnsucht nach oder meinetwegen das Mitleid mit Peter, stellt für mich kein genügend nachvollziehbares Motiv dar. Wenn sie schon sehenden Auges in die Gefahr rennt, dann sollte sie ein edleres Motiv dafür haben.Am Besten durch irgend etwas, das sich ihrer Kontrolle entzieht, dazu gezwungen werden.

Als unrealistisch empfinde ich darüber hinaus, dass sie sich stundenlang hinter dem Tisch vergräbt und sich von Lior mustern lässt, anstatt ihm all diese Fragen zu stellen, die sie nachher mit ihm und Bartisam erläutert. Warum sollte sie so viel Angst vor ihm haben, wenn sie doch vorher mit ihm durch die Straßen gezogen ist und er sie beschützt hat?

Unrealistisch empfinde ich darüber hinaus ihr Zögern, dem Sarafin aus dem Käfig folgen zu wollen. Natürlich: Inzwischen ist sie desillusioniert, und er sieht seltsam aus, aber schlimmer kann es doch gar nicht mehr werden. Selbst wenn er ein Verräter ist, besser als auf den Tod zu warten, ist die Flucht allemal.

Verwirrend:
Es gibt auch ein paar Sätze, die umgestellt werden sollten, damit sie besser verständlich sind. Z.B. die Stelle mit Gudruns Festtagsgeschirr. Die Sätze in diesem Zusammenhang musste ich drei mal lesen, bevor ich ihren Sinn begriff.
Oder folgende Stelle:
Lior sagt: «Außerdem sollten wir den ganzen Tag durchlaufen und, nur wenn unbedingt nötig, sehr kurze Pausen einlegen. In der Dunkelheit ist es zu gefährlich, um länger an einem Ort zu bleiben.»
Wann müssen sie dann also laufen? Am Tag, wenn es dunkel ist, oder in der Nacht, wenn die Monde scheinen? Oder Tag und Nacht, weil sie nur nachts etwas sehen und tagsüber nicht an einer Stelle bleiben können, weil es zu gefährlich ist?

Abschließend lässt sich sagen, dass ich mir gewünscht hätte, dass das Buch in Ich-Form geschrieben wäre. Dann tauchte der schöne Name Estelle zwar nicht mehr so häufig auf, aber durch die Beschränkung auf ihre Perspektive würde das Buch meiner Ansicht nach nur gewinnen. (Beide, das Mädchen und der Leser kommen fremd in eine andersartige Welt und müssen erst nach und nach herausfinden, wie es da läuft.)
Corvins Gedanken in den eingeschobenen Texten stellten dann das einzige Gegengewicht dar, und es würde meiner Ansicht nach völlig ausreichen. (Dass mir die Perspektive des Kanzlers nicht zusagt, erwähnte ich ja bereits.)
Leider kann ich aufgrund des Schreibstils und der von mir als unrealistisch empfundenen Stellen nur drei Sterne verleihen, was mich aber nicht daran hindert, die Fortsetzung lesen zu wollen.