Rezension

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Eine Kindheit in Mähren

Das letzte Jahr
von Ilse Tielsch

Bewertet mit 4 Sternen

„Ich bin oft dort … im leeren Turnsaal zittert noch etwas / Mozart / auf verstimmtem Klavier gespielt / aber die Lieder sind verstummt / die Stimmen nicht mehr hörbar / vergebens lege ich mein Ohr / auf die Schwelle / fremd / gehe ich durch die Gassen / eingehüllt in Schatten und Schlaf / weiß: der Regen bleibt nicht aus / schreibe doch immer wieder / mit Kreide / an die Häuserwände / alle Antworten / die sie mir schuldig geblieben sind.“

Im Gegensatz zu dem Lyrischen-Ich im zitierten Gedicht „Circulus Brunnensis – vor einer alten Karte von Mähren“ von Ilse Tielsch aus dem Gedichtband „Zwischenbericht“, 1986 erzählt die junge, aufgeweckte zehnjährige Heldin in „Das letzte Jahr“ ganz unbefangen von ihren Beobachtungen und Gedanken über ihr Leben, bevor Österreich sich im März 1938 dem Deutschen Reich anschloss.

Damit grenzte die Tschechoslowakei, seit dem 28.10.1918 ein freiheitlich-demokratischer und sozialer Rechtsstaat, zu dem auch Mähren und 3 Millionen deutsche Bewohner gehörten, nun fast auf ganzer Länge an das Deutsche Reich. Hitler machte die „Lösung“ der tschechoslowakischen Frage, die schwelenden Nationalitätskonflikte & Benachteiligung der sudetendeutschen Minderheit zur „Chefsache“, indem er die Sudetendeutsche Partei (SdP) dazu brachte unerfüllbare Autonomieforderungen zu stellen. Als die Krise sich innerhalb der Tschechoslowakei zuspitzte, forderte Hitler die Abtretung der Sudetendeutschen Gebiete ans Deutsche Reich. Am 20. Mai machte die Tschechoslowakei in Erwartung eines deutschen Angriffs mobil, was Hitler das entscheidende Argument brachte, die Wehrmacht in Bereitschaft zu setzen und gleichzeitig fleißig die Anti-Tscheslowakei-Propaganda zu befeuern, mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Da allen voran wohl Großbritannien unter Chamberlain die Redewendung mit dem kleinen Finger und der ganzen Hand nicht kannte und meinte den Frieden in Europa bewahren zu können, indem man Hitler „dieses eine Mal“ in seinem Wunsch nach einer Neuordnung der osteuropäischen Grenzverläufe und des Anschlusses des Sudetenlandes ans Deutsche Reich im September 1938 auf der Godesberger Konferenz nachgab, wollte Hitler 6 Tage später am 28.9. in ein territorial nicht genau definiertes Gebiet einmarschieren. Um einen Krieg abzuwenden trafen sich GB, Italien, Frankreich unter Ausschluss der Tschechoslowakei oder seines Bündnispartners der Sowjetunion mit Hitler am 29.9. in München und beschlossen die Abtretung des Sudentengebietes ans Deutsche Reich, welches jenes vom 1.-10, Oktober besetzen sollte, dafür erkannten England und Frankreich den Bestand des Reststaates an. Die machtvolle „Heimholung“ der Sudeten und gleichzeitige Abwehr eines Krieges steigerte Hitlers Popularitätswerte in der deutschen Bevölkerung enorm.

Wer um diesen politischen Hintergrund nichts weiß, der wird natürlich nicht bei der kindlichen Selbstvorstellung der neunjährigen Heldin gleich zu Beginn der, aus der Retroperspektive geschilderten, Geschichte diese leichte Gänsehaut, die das Wissen um das unabwendbare, drohende Unheil, spüren.

„Ich bin die Elfi Zimmermann. Ich bin ziemlich klein und mager und habe glatte braune Haare, die mir ins Gesicht hängen würden, wenn mir die Marschenka nicht jeden Morgen zwei feste Zöpfe flechten würde.“ (S. 5)

Marschenka ist das, was man früher „das Mädchen nannte, und heute unter haushaltsnahe Dienstleistungen geführt wird, der deutschen Familie Zimmermann in einer typischen multikulturellen südmährischen Kleinstadt ungefähr ein Jahr, bevor Hitler . Für Elfi ist die 18 jährige Tschechin Marschenka aber vor allem Vertraute, Verbündete und oft Wegweiserin in der oft fremden Welt der Erwachsenen.

Diese Welt erkundet Elfi seit neustem mit ihrem Fahrrad, mit dem sie zwischen einem vorrangig deutschen und einem vorrangig tschechisch bewohnten Dorf und ihrer von Tschechen, Slowaken, Ungarn und Deutschen, von Katholiken, Protestanten und Juden bewohnten Heimatstadt hin- und her fährt. Der Erzählort, ihre kleine idyllische Welt, als verkleinertes Abbild der Anordnung des Deutschen Reiches, des Sudentenlandes und der Rest-Tschecheslowakei zueinander, der ihr noch fernen großen Welt.

Zum Personal des Romans gehören neben ihren besten Freundinnen Alenka, aus einer finanziell weniger gutgestellten Großfamilie, mit der sie zusammen in Amerika die Indianer retten will, die aber im Gegensatz zu Elfi, die noch auf die aus alten K. und K. Schule geht, leider die neu gebaute tschechische Schule besucht, und ihre jüdische Freundin Lili, aus einer konservativ, bildungsbürgerlichen Familie, die zwar in der Schule neben ihr sitzt, aber weder mit zum sommerlichen Schwimmen, noch zu kirchlichen Festumzügen darf. Dann sind da noch ganz wunderbar gezeichnete Nebenfiguren als Beispiele exzentrischer, gesellschaftlicher Strömungen wie der Oberlehrer Wessely, ein Gesundheitsfanatiker, der selbst im Winter ein Loch ins Eis hackt und baden geht, um der Gefahr einer Wintergrippe zu trotzen und Elfis Klavierlehrerin, die sich ihres Korsetts entledigt hat, und in ihren wallende Kleidern Dvořák spielt.

Bevor das Unheil Gestalt annimmt, erspürt das beobachtende Kind die Veränderungen im Kleinen. Diese zu Beginn noch undeutliche, aber alles vergiftende Wolke des Nationalismus, der die Gemeinschaft für immer spalten wird, bleibt dem kleinen Mädchen nicht verborgen und sie erzählt uns, dem Leser, unbedarft, ohne uns beeinflusse zu wollen, davon. Wie es der Autorin gelingt diesen Ton bis zum Ende zu halten, macht dieses Buch so berührend und lesenswert für mich.