Rezension

Eine klare Lese-Empfehlung für alle, die keine Angst vor den großen Themen Trauer und Tod haben.

Ein Mädchen, das Beerdigungen sammelt und ein Mann, der niemals schläft - Annika Fechner

Ein Mädchen, das Beerdigungen sammelt und ein Mann, der niemals schläft
von Annika Fechner

Ferdinand hat ein Problem: Er würde gerne schlafen, kann es aber nicht. Seit er denken kann, ist das schon so. Manch einer würde an diesem Schicksal zerbrechen, doch Ferdinand ist erfinderisch genug, sich immer wieder an die neuen Gegebenheiten anzupassen, denn sein Körper verändert seine Bedürfnisse permanent.

Anfangs arbeitet er als Flugbegleiter – der vermeintlich perfekte Job für einen, der an Schlafstörungen leidet, sind doch alle um ihn herum irgendwie geplagt von Jetlag, Zeitumstellung und chronischer Unruhe.

Doch schleichend kommt der Zusammenbruch. Ferdinand verliert an Gewicht, merkt, dass er diesen Job nicht weiter machen kann. Er muss neue Wege finden, wie er Kraft tanken kann, ohne zu schlafen. Und so entdeckt er, dass er vor allem dann in einen dämmerartigen Zustand driften kann, wenn er mit Menschen redet, die extrem ich-bezogen sind und ihn in Gesprächen „aussaugen“. Er findet diese Energiefresser auf längeren Zugfahrten. Also kauft er sich eine BahnCard 100, zieht in ein Wohnmobil auf einem Dauercamperplatz, um Geld zu sparen, und arbeitet Teilzeit beim Straßenbau. Die körperliche Arbeit hält ihn fit und macht ihn gleichzeitig müde.

Auf einer seiner Zugfahrten lernt er Melissa kennen, ein 16-jähriges Mädchen, das unterwegs zu einer Beerdigung ist. Per Zufall treffen sie sich einige Zeit später wieder – und dann noch einmal. Als sie jedesmal wieder auf dem Weg zu einer Beerdigung ist, wird Ferdinand hellhörig. Die beiden bleiben lose in Kontakt und eines Tages bittet Melissa ihn aus heiterem Himmel, sie auf eine dieser Beerdigungen zu begleiten. Ferdinand kommt mit. Und er begleitet sie danach nochmals. Dann aber fällt ihm auf, dass alle Toten, auf deren Beerdigungen Melissa verweilt, weiblich sind und Eva heißen. Er wird stutzig und fragt nach. Ihre Reaktion ist unerwartet heftig, sie schreit ihn an und verschwindet.

Wochenlang hört er nichts mehr von dem eigenartigen Mädchen, auf Kontaktversuche seinerseits kommt kein Lebenszeichen zurück. Als Ferdinand dann eines Tages eine Todesanzeige für eine gewisse „Eva Essling“ entdeckt, wittert er seine Chance und hofft, Melissa bei dieser Beerdigung zu treffen. Und in der Tat, er hat Glück – das Mädchen ist da. Zögerlich lässt es sich auf ein Gespräch mit ihm ein – und was er dann erfährt, macht ihn unendlich traurig.

Dieser Moment ist ein Wendepunkt in der Geschichte. Die beiden Bekannten werden enger zusammengeschweißt ob ihres gemeinsamen Wissens. Aus der Bekanntschaft wird eine wahre Freundschaft und Ferdinand entdeckt unerkannte Seiten an sich und Fähigkeiten, die er sich vorher nicht zugetraut hätte. Gemeinsam mit Melissa lässt er sich auf ein schwieriges Unterfangen ein …

Annika Fechner erzählt in diesem Buch eine anrührende Geschichte über Schlaflosigkeit, Tod und Trauer – aber auch über den Sieg des Lebens über den Tod, über die Liebe, die die Trauer schmälern kann, und über Freundschaft, in der Menschen über sich hinauswachsen können.

Mit zartem Humor und einem Blick für die Feinheiten der Sprache, schreibt sie sich durch den Dschungel der Gefühle, in dem die Protagonisten „gefangen“ sind, und es gelingt ihr, die Personen glaubhaft zu skizzieren, ihnen Tiefe zu verleihen.

„Ein Mädchen, das Beerdigungen sammelt und ein Mann, der niemals schläft“ wurde verlegt von einem kleinen Verlag aus Feldafing in Bayern mit dem etwas irreführenden Namen hansanord. Der Verlag scheint ein Gespür für interessante Geschichten zu haben. Auch andere Bücher aus dem Sortiment haben Potential, doch ergeht es hansanord wie vielen Verlagen dieser Größe: Ihre Bücher finden sich in kaum einer Buchhandlung. Mich hat der Zufall zu diesem kleinen Verlag geführt, seither lese ich immer wieder gerne Titel aus dessen Programm. Dass stilistisch und orthografisch das eine oder andere noch geglättet werden könnte, mag man ihm nachsehen, man ahnt, wie eng das Budget ist, mit dem gehaushaltet werden muss.

Fazit: Eine klare Lese-Empfehlung für alle, die keine Angst vor den großen Themen Trauer und Tod haben.