Rezension

Emanzipation im 19. Jahrhundert

Shirley - Charlotte Brontë

Shirley
von Charlotte Bronte

Bewertet mit 4.5 Sternen

Liebesromane sind sehr schädlich, meine Gute; Sie lesen doch hoffentlich keine?

Am Anfang braucht man etwas Geduld. Die Autorin lässt uns lange im Ungewissen, wer diese geheimnisvolle Shirley ist. Über etliche Kapitel müssen wir uns mit der sympathischen Pfarrerstochter Caroline Helstone als Protagonistin begnügen, die, jung, intelligent und hoffnungslos in den Textilfabrikanten Robert Moore verliebt, exemplarisch für alle bürgerlichen Frauen im England des beginnenden 19. Jahrhunderts vor Augen führt, wie die Mädels in jener Zeit in ihrer gesellschaftlich vorgegebenen, eng eingegrenzten Rolle versauerten. Als Shirley dann schließlich auftaucht, hat die Radikalität dieser emanzipierten Frau für die damalige Zeit durchaus das Zeug zu einem Skandalroman.

Shirley Keeldar ist wohlhabend, mächtig, selbstbewusst, intelligent, anspruchsvoll, bestimmend. An ihr beißt sich so mancher selbstgefällige Held die Zähne aus. Sie nennt sich „Hauptmann Keeldar“ und wird so in gewisser Weise den Männern ebenbürtig. Natürlich nur, weil sie mit listiger weiblicher Diplomatie die Form wahrt und weil Pfarrer Helstone, der sonst immer extrem skeptisch gegenüber weiblichen Einfällen ist, sie charmant findet. In der unauffälligen, aber nach Bildung und einer Aufgabe lechzenden Caroline findet Shirley eine Seelenverwandte. Die beiden freunden sich an. Aber zwischen ihnen steht Robert Moore, der durch die Kontinentalsperre Napoleons in Not geratene Tuchfabrikant (kommt uns das nicht gerade irgendwie bekannt vor...?), der sich aus existentiellen Gründen eher für die reiche Erbin zu interessieren scheint als für die mittellose Bürgerliche - und auch noch an anderer Front in Bedrängnis gerät, hat er doch aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage viele Arbeiter entlassen müssen, und die Not der einfachen Landbevölkerung und somit die Gefahr gewaltsamer Aufstände ist von Anfang an spürbar gegenwärtig.

So ist dieses Buch schon allein auf Grund seiner politischen Sprengkraft höchst lesenswert, obwohl es literarisch sicher nicht Charlotte Brontës stärkstes Werk ist. Sowohl „Jane Eyre“ als auch „Villette“ fand ich dichter, packender. Und doch habe ich „Shirley“ ausgesprochen gern gelesen. Schon auf Grund der feinen Ironie, mit der sie Männlein wie Weiblein aus Briarfield und Umgebung charakterisiert, und das, trotz allem trockenen, teils zynischen Humor, immer noch mit weitsichtiger Differenziertheit - denn kein Charakter ist einfach gut oder schlecht; nein, wenn die Autorin gerade so recht über eine Figur hergezogen ist, lobt sie auf einmal deren Vorzüge. Großartig, wie feinfühlig sie den mitten in der tiefsten Pubertät befindlichen, verschlossenen Martin Yorke charakterisiert. Daraus spricht eine für das 19. Jh. doch ungewöhnliche Wertschätzung für schwierige Jugendliche.

Viele überraschende Dinge passieren in der zweiten Buchhälfte. Am überraschendsten aber fand ich die Schlussbemerkung der Autorin, die sich schlicht und ergreifend weigert, ihrer Geschichte eine Moral aufzuoktroyieren.

Fazit: Auch dieses Werk von Charlotte Brontë ist es, trotz Schwächen, absolut wert, gelesen zu werden.