Rezension

Enttäuschend im Vergleich zu "Brooklyn"

Nora Webster - Colm Tóibín

Nora Webster
von Colm Toibin

Bewertet mit 2.5 Sternen

Als Maurice Webster nach schwerer Krankheit stirbt, ist seine Frau Nora seit fast 20 Jahren Hausfrau und Mutter gewesen. Maurice war als Lehrer geschätzt und anerkannt. Für Nora ist wichtig, was andere Leute über sie denken könnten; sie nutzt aber auch nach dessen Tod gnadenlos den Status ihres Mannes, um ihre Ziele zu erreichen. Nora legte offenbar sehr viel Wert auf die finanzielle Sicherheit in der Ehe mit einem Lehrer und wirkt auf andere anfangs hochnäsig. Ihre persönlichen Existenzängste als Basis ihrer Entscheidungen sind deutlich spürbar.

Die Websters haben vier Kinder, die fast erwachsenen Töchter Aine und Fiona und die jüngeren Söhne Donal und Conor. Nora muss nun von einem Moment auf den anderen die Familie ernähren und die Verantwortung für ihre Kinder tragen. Sie erhält dabei kräftige Unterstützung durch die kinderlosen Geschwister ihres Mannes, ohne dass die Zukunft der Kinder ein gemeinsames Thema zwischen der Mutter, den Kindern und Onkel und Tante zu sein scheint. Es ist offenbar ausgemacht, dass Tante Margaret die Ausbildung des 15-jährigen Donal ebenso unterstützen wird, wie sie das bei Tochter Aine tat, die mit dem Lehrerseminar fast fertig ist. Die Mutter der Kinder scheint durch die verständnisvollen Verwandten beinahe in die Außenseiterrolle gedrängt zu werden.

Nora wirkt anfangs befremdlich kühl ihren Kindern gegenüber. Das drängendste Problem, das Stottern ihres älteren Sohnes und dessen Schulprobleme, scheint sie kaum zu interessieren. Stattdessen verkauft sie in blindem Aktionismus, völlig ahnungslos über dessen Wert, das Ferienhaus der Familie, das für die Kinder als Symbol für glückliche Zeiten mit dem Vater steht. Der unbedingte Wunsch dieses Thema abzuschließen, scheint Noras Form der Trauer zu sein. Nora kann an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren. Sie muss bewusst mit der Einsamkeit umgehen lernen und ihr erwachsenes Leben erst entdecken, das nun nicht mehr allein aus ihrer Mutterrolle besteht. Befremdlich fand ich insbesondere Noras Verhältnis zu ihren Töchtern, die sie gerade aus der Erfahrung von Maurices Tod doch besonders darin unterstützen müsste, finanziell unabhängig zu werden. Auch ihre Beziehungen zu Verwandten und Bekannten bleiben eigenartig kühl.

Zeitlich ist der Roman um die Zeit des Nordirland-Konflikts und der Mondlandung der Amerikaner (1968) einzuordnen. ColmTóibín fügt hier einige Versatzstücke zum Schicksal einer frisch verwitweten Frau zusammen, die für mich jedoch kein glaubwürdiges Bild Noras ergeben. Der Erzähler der Geschichte kann mir die Motive seiner Hauptfigur nicht tief genug vermitteln. Auch eine Figur, deren Handeln ich nicht billige, muss in sich logisch angelegt sein. Obwohl ich mich mit den Verhältnissen in Irland zur Zeit der Handlung zuvor ausführlich befasst habe, besonders auch mit Bildungschancen für Mädchen und Frauen, finde ich Nora Webster als Person unglaubwürdig.