Rezension

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Familienbande

Zwei Schwestern
von Dorothy Baker

Bewertet mit 4 Sternen

Um das gleich vorne wegzunehmen, wer meine Rezension lesen will ohne das Buch zu kennen – Achtung Spoiler Alarm! (Wie es jetzt immer so schön neudeutsch heißt.) Ich habe hin und her überlegt, wie ich über das Buch von Dorothy Baker schreiben kann, ohne zuviel zu sagen und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es nicht kann und will.

Ihre „zwei Schwestern“ sind nicht nicht einfach nur Schwestern, sie sind Zwillinge, eineiige. Und so ist bereits der Beginn des Romans irgendwie befremdlich, weil ein Zwilling nach Hause fährt zur Hochzeit des anderen Zwillings und man den Widerwillen und die Verzweiflung von Cassandra aus jeder Pore bzw. Zeile spüren kann. Cassandra erzählt und ich bin ihr von der ersten Seite an verfallen. Sie erzählt so voller Kraft, ist gleichzeitig völlig verunsichert und wirkt in ihrer Wohnung in Berkeley wie ein kleiner verirrter Spatz der verzweifelt vor dem Fenster auf und ab flattert, in der Hoffnung irgendwo den Ausgang in die Freiheit zu finden. Auf der Fahrt nach Hause beginne ich mir ernsthaft Sorgen um sie zu machen, habe Angst, sie macht Dummheiten, fährt das Auto gegen einen Baum oder an der Einfahrt zur Ranch vorbei. Und ich mag ihre Schwester nicht. Dieser egoistische Zwilling, der einfach nach New York geht, alle Brücken abbricht und nach nicht mal einem Jahr mit nem Typen auftaucht und ihn im Kreise der kleinen Familie heiraten will. Haben Zwillinge sonst nicht immer dieser wahnsinnig enge Verbindung, was ist denn in sie gefahren? Dann ist Cassie daheim und ich erlebe sie plötzlich ganz anders. Immer noch ist sie die Erzählerin der Handlung und doch mache ich mir keine Sorgen mehr um sie, sondern beginne allmählich eher Angst vor ihr zu haben. Aus dem Spatz ist eine fiese Krähe geworden und je mehr ich das Familiengefüge erlebe, desto dankbarer bin ich um meine eigene. Die Familie ist dominiert durch eine große Fehlstelle – das ist der Krebstod der Mutter. Vater und Großmutter leben im Haus, die Mädchen sind studieren gegangen. Alle wirken, als spielten sie das Leben nur, die einzige, die mir am normalsten vorkommt, ist Judith. Judith, die ihr Glück gefunden hat, weil sie es wagte, sich von ihrer dominanten Schwester zu befreien. Die ihre Familie liebt und dennoch den Abstand suchte, um bei sich bleiben und sich gleichzeitig dem Leben und den anderen Menschen da draußen zuwenden zu können.

Die eingespielten Muster im gewohnten Zuhause der Kindheit bringen einige Momente der Verwirrung und Unentschiedenheit. Fast hätte Cassie ihre Schwester davon überzeugt, dem jungen Arzt den Laufpass zu geben. Doch Judith ist klar und konsequent, und als wüsste Cassie um ihren Zwilling, entscheidet sie sich für ein letztes radikales Mittel, um die Hochzeit doch noch zu verhindern. Ich lese Cassie als trotziges, spätpubertierendes Mädchen, hochbegabt und intelligent und darum verzweifelt und suchend. Die kleine Schwester war ihr Anker. Judith in der gemeinsamen Wohnung wissend, gab ihr den Halt und die Energie, um nach draußen zu gehen und Kontakte zu suchen. Ohne ihren Zwilling fühlt sie sich verloren, weil sie nur noch auf sich selbst reflektiert. Der Spiegel im gleichaussehenden Gegenüber ist ihr verwehrt.

Natürlich ist Cassandra der spannendere Charakter, doch meine Sympathie liegt klar bei Judith. Ihr drücke ich für die gemeinsame Zukunft mit Jack ganz fest beide Daumen und verstehe schnell, dass New York gerade weit genug weg ist.

Bemerkenswert ist das Alter dieses Romans. Das liest man ihm nämlich nicht an. Stutzig wird man zwischendurch schon etwas bei Begriffen wie Schreibmaschine und Telefonzelle mit Vermittlungsdame, aber die Frauenfiguren wirken so modern und die Konflikte wie aus unserer Zeit gegriffen, dass ich es erst nicht wahrhaben wollte, hier eine Neuauflage aus den 60er Jahren in den Händen zu halten. Dorothy Bakers Erzählstil, ihre Sprache hat mich umgehauen. Wenn gleich ich einige Wendungen in der Handlung auch vorhergesehen habe, so bin ich mir nicht sicher, ob die Autorin dies nicht sogar mit einkalkuliert hat. Die Verteilung der Erzählstimme auf beide Schwestern hilft die Figuren klarer zu sehen und interpretieren zu können. Die dargestellte Kommunikation in der Familie hat mir teilweise wirklich die Schuhe ausgezogen. In dieser Form habe ich das so noch nicht gelesen. Bakers Roman zwingt einen, sich auf diese Figuren einzulassen. Wie ein Sog zieht dich die zum Teil eigentlich unspektakuläre Handlung in ihren Bann, du musst weiterlesen bis zum bitteren Ende und dann ist der Roman noch immer nicht vorbei.