Rezension

Familiengeheimnisse...

Niemals ohne sie - Jocelyne Saucier

Niemals ohne sie
von Jocelyne Saucier

Bewertet mit 4 Sternen

Dynamit und andere explosive Mischungen beherrschen diesen ungewöhnlichen Familienroman, erzählt aus sechs verschiedenen Perspektiven...

Die Cardinals sind keine gewöhnliche Familie. Sie haben den Schneid und die Wildheit von Helden, sie haben Angst vor nichts und niemandem. Und sie sind ganze dreiundzwanzig. Als der Vater in der stillgelegten Mine eines kanadischen Dorfes Zink entdeckt, rechnet der Clan fest mit einem Anteil am Gewinn – und dem Ende eines kargen Daseins. Aber beides wird den Cardinals verwehrt, und so schmieden sie einen explosiven Plan, der, wenn schon nicht die Mine, so wenigstens die Ehre der Familie retten soll. Doch der Befreiungsschlag scheitert und zwingt die Geschwister zu einem Pakt des Schweigens, der zu einer Zerreißprobe für die ganze Familie wird. (Klappentext)

Das Ungewöhnliche an der Familie Cardinal ist schon einmal die schier unglaubliche Anzahl ihrer Kinder: 21 sind es, und sie erziehen sich weitestgehend selbst. Der Vater, ein Erzsucher, verkriecht sich stets in seinen Keller, um weiter zu forschen, Gesteinsproben zu analysieren und Pläne zu schmieden; die Mutter steht gefühlt ständig am Herd, um die Bande satt zu bekommen. Nur des Nachts, wenn alle Kinder in ihren Betten liegen, geht die Mutter leise durch ihre Zimmer und deckt sie zu - die einzige Zeit am Tag, wo die Mutter für jedes einzelne Kind da ist, kostbar und selten.

Die Kinder sind alles andere als brav, im ganzen Dorf verschrieen, und auch untereinander ist der Umgang nicht gerade zimperlich. Sie wohnen in der kleinen Bergarbeitersiedlung Norcoville in der kanadischen Provinz Québec, weil der Vater dort einst ein Zinkvorkommen entdeckte und eine Gesellschaft dort daraufhin eine Mine errichtete - allerdings ohne den Vater entsprechend zu entlohnen. Doch nun ist die Mine stillgelegt, der Vater fühlt sich um so mehr um seinen Lohn geprellt. Mit einem seiner Söhne betritt er in aller Heimlichkeit die geschlossene Mine, denn er ist sich sicher: dort ist noch mehr zu finden. Und tatsächlich stößt er auf eine unschätzbar wertvolle Ader, die er diesmal aber nicht melden wird, sondern sich selbst zunuzte machen will. Doch es läuft nicht alles wie geplant, und es steht zu befürchten, dass der Vater auch diesmal nichts vom großen Kuchen abbekommen wird und er sich zudem noch vor dem Gesetz verantworten mus.

Dynamit durchzieht die Kindheit aller Sprösslingen der Cardinals. Am siebten Geburtstag darf jedes der Kinder das erste Mal unter Aufsicht des Vaters seine erste Stange Dynamit zünden und wird dabei mit den Gefahren des Sprengstoffs vertraut gemacht. Dynamit ist es auch, worum sich das das große Familiengeheimnis rankt - ein Geschehnis, das alle für immer verändern wird, auch wenn niemand mehr darüber spricht. Der Pakt des Schweigens hat jedenfalls seinen Preis. Wer alt genug ist, verlässt die Familie unwiederbringlich, und Treffen werden fortan tunlichst vermieden. Doch 30 Jahre später soll der Vater auf einem Kongress als erfolgreicher Erzsucher geehrt werden - und alle Familienmitglieder sind geladen. Eine explosive Mischung...

Erzählt wird die Geschichte nacheinander aus der Perspektive von sechs Kindern der Cardinals. Dabei gleitet die Erzählung rasch von der Skizzierung der jeweiligen Gegenwart hin zu den Erinnerungen an damals. Diese fallen durchaus unterschiedlich aus, was zum einen dem verschiedenen Kenntnisstand zuzuschreiben ist, zum anderen aber auch der Bewertung und Einschätzung von Situationen. Dadurch entsteht nach und nach ein komplexes Bild - von dem Zusammenleben als Großfamilie, von den Ereignissen im Dorf, von dem Unglück und den individuellen Strategien mit den Folgen umzugehen, von dem Leben danach. Jedes der inzwischen schon lange erwachsenen Kinder gibt andere Details preis, bis sich die ganze Tragödie offenbart.

Gelesen werden die jeweiligen Perspektiven (ungekürzte Hörbuchausgabe: 6 Studen und 9 Minuten) von verschiedenen Sprecher:innen: Devid Striesow, Claudia Michelsen, Anna Thalbach, Benno Fürmann, Robert Stadlober und Sabin Tambrea. Diese Aufteilung erscheint mir passend, auch wenn mir von der dysfunktionalen aber verschworenen Famiie niemand so recht sympathisch war. Zwischendurch gab es für mein Empfinden auch einige Längen, wenn derselbe Sachverhalt durch einen Perspektivwechsel zum zweiten oder dritten Mal wiederholt wurde. Erst die Offenbarung des Familiengeheimisses sorgt dann wieder für Spannung, und zwar ob während der Ehrung des Vaters schließlich doch die ganze Wahrheit ans Licht kommt...

Ein ungewöhnlicher Familienroman, interessant konzipiert, düster und bedrückend, aber auch eindringlich und stellenweise fast surreal in der Darstellung. Ein Roman, der einen in den Bann zieht...

 

© Parden