Rezension

Familiengeschichte

Apollonia - Annegret Held

Apollonia
von Annegret Held

Bewertet mit 5 Sternen

„- Das Leben von der Apollonia aufschreiwen … da war wirklich naut Schönes dran“, sagte meine Mutter (= Tochter von Apollonia und Mutter von Marie). An die Zeit will keiner mehr denken. Hör doch auf mit dem alten Kram, der interessiert doch kaanen.“

Solch ein Dialog (S. 253) entwickelt sich zwischen der sechzehnjährigen Marie (der Ich-Erzählerin) und ihrer Mutter Marianne, als sich Marie im Jahre 1977 dazu nimmt, das Leben ihrer Großmutter in einem eigens gekauften Notizbuch aufzuschreiben. Auch die im Sterben liegende Apollonia „fand ihr Leben einen Scheißdreck“ (S. 379) und „hatte nie gerne erzählt“ (S. 379). Für Marie aber – und auch für mich als Leserin – ist die Geschichte ihrer Oma so interessant, dass sie sie aus den fragmentarischen Informationen der zahlreichen Verwandten zusammenträgt. Heraus kommt dabei folgendes:

 

Apollonia wird 1902 in dem Dorf Scholmerbach im Westerwald geboren. Zeit ihres Lebens wird sie geprägt von ihrem kaisertreuen, preußisch disziplinierten Vater, der das Lachen verbietet. Zu wählerisch bei der Wahl ihres Ehemannes, heiratet sie schließlich den lebensfrohen, arbeitsscheuen, trunksüchtigen Klemens. Mit ihm bekommt sie die gemeinsame Tochter Marianne und lebt in sehr einfachen Verhältnissen auf dem väterlichen Hof, wo sie zusehends verbittert. Ihre persönliche Geschichte ist zugleich ein Zug durch die Geschichte, denn der Nationalsozialismus hält auch in Scholmerbach Einzug, ebenso der Erste und Zweite Weltkrieg mit ihren gravierenden Folgen. Nach Klemens Rückkehr aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft wird er endgültig zum Trinker. Die Ehe mit ihm bereut Apollonia längst.

 

Diese Lebensgeschichte erzählt Marie in sehr berührender Weise. Rückschauen auf Apollonias Vergangenheit erfolgen im steten Wechsel mit Maries Erinnerungen an den Sommer 1977 vor ihrem 17. Geburtstag, als sie selbst die vermeintlich erste große Liebe mit einem amerikanischen GI erlebt.

 

Apollonia steht stellvertretend für so viele Frauen ihrer Generation, aufgewachsen zu einer Zeit, als noch andere Wertvorstellungen als heute herrschten. Ihre Rolle als Ehefrau hat sie nie in Frage gestellt.

 

Regional ist der Roman in einem fiktiven Dorf im Westerwald angesiedelt. Die wörtliche Rede wird meistens im Westerwalder Dialekt wiedergegeben. Das passt gut zur Bodenständigkeit der Romanfiguren. Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch gehalten. Immer wieder werden Begriffe und Redewendungen wiederholt, z.B. die Auflistung der Dörfer Linnen, Wennerode, Beilchen, Pfeifensterz, Hellersberg, Ellingen, Wällershofen, Böllsbach, Jammertal und Langdehrenbach oder „Sommernooscht en Bloiteduft“. Wer wie ich ein Kind der 60er Jahre ist, in dem werden schöne Erinnerungen geweckt, etwa an die seinerzeit aktuellen Schlager, z.B. „Anneliese, ach Anneliese“.

 

Ein wunderbarer Roman, der Anregung sein kann, die eigene Familiengeschichte zu erforschen.