Rezension

Fesselnder Roman über das Thema Asyl

Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten - Martin Horváth

Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten
von Martin Horváth

Bewertet mit 5 Sternen

ZUM INHALT:
Das Buch spielt in einem (fiktiven) Asylbewerberheim in Wien. Es ist aus Sicht des Protagonisten Ali geschrieben, der die Geschichten der Einwohner rekonstruiert bzw. es zumindest versucht und von dem Alltag im Heim erzählt. Dabei ist Ali der stets Allwissende. Ali hat es eigentlich nicht nötig, in diesem Heim zu wohnen, denn er ist überdurchschnittlich intelligent, spricht fließend Deutsch, weiß sich in jeder Lebenslage selbst zu helfen und hat kein Trauma zu verarbeiten. Er ist eigentlich nur hier, um den Anderen ihre Geschichten zu entlocken, um ihnen zu helfen. Er selbst hat selbstverständlich keine Probleme, benötigt keine Hilfe, und die seltsamen Albträume, die ihn nachts plagen, haben so rein gar nichts mit ihm zu tun. Oder vielleicht doch?

MEINE MEINUNG:
Ali ist angeblich 15, könnte aber auch, wie er selbst sagt, genauso gut 51 sein. Zahlen sind eben auch nur Schall und Rauch für ihn. Und wenn man mal von dem typischen Teenagerverhalten absieht, was Frühlingsgefühle betrifft (Ali verliebt sich regelmäßig in eine der arbeitenden Damen im Heim und spart nicht mit Anzüglichkeiten.), ist Ali für sein Alter erstaunlich weise. Nicht nur überdurchschnittlich schlau, sondern nahezu allwissend. Ali beherrscht die deutsche Sprache fließend. Und nicht nur das, er spricht JEDE Sprache dieser Welt. Was natürlich von Vorteil ist, wenn Ali sich mit den Heimbewohnern unterhält, die noch nicht so gut Deutsch können. Oder wenn er mal wieder andere belauscht, die wahlweise auf Deutsch, Englisch oder in ihrer Heimatsprache miteinander reden.
Nicht nur, dass Ali alle Sprachen der Welt zu sprechen scheint, macht stutzig. Auch seine enorme Klugheit. Ali ist eloquent wie kein Anderer, und seine Vergleiche, Metaphern etc. setzen ein sehr fundiertes Wissen in vielen Bereichen (Literatur, Mythologie, Geschichte,...) voraus. Ich will einem 15jährigen ein solches Wissen nicht absprechen, aber dies zusammen mit dem unbändigen Fundus an Sprachen macht Ali fast schon zu einer Art „Asylantenheimgott“, der (fast) alles weiß, die Schicksale vieler Bewohner in ihren Gesichtern ablesen kann und alles mitkriegt.
Ali lässt es auch im Dialog mit dem Leser sichtlich heraushängen, was er von manchen seiner nicht so gebildeten Mitbewohner hält. Dadurch war er mir zumindest am Anfang reichlich unsympathisch. Doch er zeigt im Laufe des Buches immer mehr Zuneigung zu vielen seiner Mitbewohnern/innen, kann nachsichtig und einfühlsam sein, steht jederzeit für seine Freunde ein und hilft ihnen aus der Patsche.

In der Geschichte werden dem Leser viele (Neben-)Figuren vorgestellt. Ich habe manchmal ganz ehrlich den Überblick verloren und wusste oft nicht mehr, welches Land ich welchem Namen zuordnen muss. Im Nachhinein wäre es wohl für eine vergessliche Person wie mich gescheit gewesen, einfach beim Lesen ein Personenverzeichnis anzulegen. Aber die Vielzahl an Personen, die auftreten, macht das Buch erst richtig lebendig und spannend, da man natürlich über jeden wissen will, was er/sie erlebt hat. Deshalb ist es immer sehr spannend, wenn Ali so nach und nach erfährt, was den Anderen widerfahren ist.

Die Schicksale sind – da es sich um eine fiktive Geschichte (wenn auch mit realem Hintergrund) handelt – vermutlich rekonstruiert. Aber jeder, der so wie ich schon zahlreiche Autobiographien aus aller Herren Länder gelesen hat (z. B. über Genozide, Bürgerkriege oder Sklaverei), weiß, dass die im Buch beschriebenen Schicksale absolut realistisch wiedergegeben sind. Als Außenstehende frage ich mich immer wieder, wie ein Mensch ein solches Erlebnis überhaupt verarbeiten kann, wie er noch lachen und (Über-)Lebenswillen haben kann. Umso erschütternder ist es für mich zu sehen, wie bescheiden Asylsteller in westlichen Ländern behandelt werden. Für die Behörden sind sie nur eine Nummer; die Ablehnungsgründe sind ohne Hand und Fuß, von Menschen geschrieben, die sich vermutlich noch keine Sekunde Gedanken darüber gemacht haben, was diese Menschen durchgemacht haben. Nun möchte ich aber nicht nur darüber schimpfen, wie schlecht wir Westler doch alle Ausländer behandeln. Alleine, wie sehr sich die Angestellten des Heimes um ihre Schützlinge bemühen, ist rührend. Dennoch finde ich es traurig, dass scheinbar alle Menschen außerhalb des Heimes ausländerfeindlich sind. Ali begegnet „draußen“ keiner einzigen Person, die nett zu ihm ist. Ein bisschen schürt der Autor damit auch die Vorurteile gegenüber dem Westen, dass dort alle ausländerfeindlich wären. Das finde ich doch etwas schade, aber vielleicht ist damit auch einfach das subjektive Empfinden von Ali und den anderen Bewohnern wiedergegeben, die ausnahmslos schlechte Erfahrungen mit den Einheimischen gemacht haben.

Es dauert schon eine Weile, bis man als Leser merkt, dass mit Ali etwas nicht stimmt. Ich will hier nicht zu viel spoilern, nur anmerken, dass es mir irgendwann selbst schwerfiel, Alis Erlebnisse richtig einzuordnen in Realität oder Einbildung. Da Ali der Erzähler ist und es immer seine Wahrheit ist, egal ob es so war oder nicht, ist das auch für den Leser nicht so einfach zu unterscheiden. Später wird dann anhand einiger Anhaltspunkte (z. B. das Unverständnis des Umfelds auf angebliche Erlebnisse, von denen Ali erzählt) klarer, was nur Alis Kopf entsprungen ist.

Das Ende war harter Stoff, das kann ich jetzt einfach nicht blumiger ausdrücken. Es ist klar, dass es sich hierbei um eine surreale Situation handelt, aber ich musste mich richtig durch diese Seiten quälen, der bisherige Lesefluss wurde deutlich zäher, und ich war regelrecht erschöpft danach. Das hat mir als Leserin das Gefühl gegeben, am Ende mit diesem Buch völlig im Regen stehen gelassen worden zu sein. Sicherlich beabsichtigte der Autor damit, dass man sich selbst seine Gedanken machen muss, dass die Schicksale der Figuren offen bleiben müssen – und dass Ali ein größeres Problem hat, als er (und der Leser) dachte. Ja, ich gebe zu, ich hätte mir ein Happy End gewünscht. Wenigstens für Ali, oder für den Großteil der Bewohner. Mit offenen Enden habe ich immer so meine Probleme, zumal dies kein Buch ist, das nach einer Fortsetzung aussieht. Aber das ist nunmal die harte Realität.

Die Sprache ist anspruchsvoll, auf recht hohem Niveau, aber durchaus angenehm lesbar. Wie ich bereits bei Ali andeutete, gibt es zahlreiche Verweise auf irgendwas, so dass es nicht schadet, wenn der Leser eine gewisse Allgemeinbildung vorweisen kann. Vieles, worauf Ali Bezug nahm, kannte ich zwar, doch einiges verstand ich auch gar nicht. Jetzt bin ich weder ein Genie noch eine Hohlbratze, aber ich denke, man hätte es durchaus auch ein bisschen weniger anspruchsvoll machen können, und trotzdem hätte der Autor Alis Intellekt gerecht werden können.

Alles in Allem ein Buch, das fesselt, bedrückt und nicht mit der letzten Seite beendet ist, da sich die meisten Leser sicherlich auch noch danach viele Gedanken über die Thematik machen werden.