Rezension

Flucht und Rückkehr...

Der Erinnerungsfälscher -

Der Erinnerungsfälscher
von Abbas Khider

Bewertet mit 3.5 Sternen

Eher zurückhaltend und distanziert erzählt, vieles wird angedeutet, wenig vertieft. Erinnerungen sind keine feste Größe und unzuverlässig...

Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, auch wenn er in Berlin-Neukölln nur in den Supermarkt geht. Als er eines Tages die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Je näher er seiner in Bagdad verbliebenen Familie kommt, desto tiefer gehen die Erinnerungen zurück, an die Jahre des Ankommens in Deutschland, an die monatelange Flucht und schließlich an die Kindheit im Irak. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine Rettung bis heute. Eine Lebensgeschichte von enormer Wucht. In diesem bewegenden und poetischen Roman liegt der Klang eines ganzen Lebens. (Klappentext)

Das Thema Flüchtlinge ist kein neues, aktuell ist es seit Jahrzehnten, denn immer herrscht irgendwo Krieg, werden Völkergruppen verfolgt oder muss jeden Tag ums nackte Überleben gekämpft werden. Said Al-Wahid floh seinerzeit aus dem Irak, ließ Bagdad und seine Familie hinter sich, um ein Leben ohne Angst führen zu können. Doch fühlt man sich wirklich zu Hause in dem Land, das einen letztlich aufnimmt, fremd die Sprache, die Kultur, das Denken? Said Al-Wahid lernt schnell die Sprache, nimmt einen Beruf an, heiratet und setzt ein Kind in die Welt. Doch ersetzt das die Wurzeln, die einst gekappt wurden? Die gleichgültige Bürokratie mit nicht immer wohlwollenden Sachbearbeiter:innen in Deutschland tun ihr übriges. Selbst nach der Einbürgerung kämpft Said Al-Wahid manchmal gegen Windmühlen.

 

"Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten."

 

Doch um diese Themen geht es nur zu Beginn. Said Al-Wahid erfährt von seinem Bruder, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Will er sie noch einmal lebend sehen, muss er sofort zurück in den Irak. Er macht sich sogleich auf zum Flughafen und auf den Weg nach Bagdad. Im Flugzeug und nach seiner Ankunft wird er von Erinnerungen überschwemmt. An seine Kindheit und Jugend, an seine Fluchtgedanken und schließlich an die Flucht selbst. Aber - die Erinnerungen sind trügerisch. Oft gibt es große Lücken, die Said durch seine Fantasie zu schließen sucht, zuweilen erinnert er sich an verschiedenen Versionen desselben Geschehens, bei vielem ist er auch erleichtert, dass er sich nicht erinnern kann. Doch die Zustände im damaligen Irak werden auch so deutlich, der Fluchtplan wird nachvollziehbar.

 

"Er wollte auch verhindern, dass irgendjemand in seiner Vergangenheit bohrte (...) Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und erträglich sein, wenn man diese Orte meidet."

 

Zuweilen poetisch, meist aber eher nahezu lakoinisch wird hier von Said Al-Wahid erzählt, von seiner Flucht aus dem Irak, der durchaus auch willkürlich anmutenden Bürokratie in Deutschland, seinen Erinnerungslücken, den Zuständen in seiner ehemaligen Heimat, dem Verlust. Themen werden meist nur angerissen, vieles nur angedeutet, wenig vertieft. Der Schreibstil ist distanziert, so dass die Emotionen außen vor bleiben. Ich hätte mir ein intensiveres Leseerlebnis gewünscht, auch wenn ich respektiere, dass der Autor, der hier sicherlich eigene Erlebnisse hat einfließen lassen, diese distanzierte Darstellung für sich gewählt hat.

 

"Er ist nie mit seiner kleinen Familie heimgereist und nun liegt seine Mutter im Sterben. Als Said wegging, war das Land ein Loch der Verzweiflung; zwei Jahrzehnte später ist es zu einem Loch der Hoffnungslosigkeit geworden."

 

Eine ruhige und zurückhaltende Erzählung ohne großen Spannungsbogen mit einem Einblick in die Thematik Flucht (Gründe, Gefahren, Hürden, Entwurzelung). Und über die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen. Ein wenig intensives Leseerlebnis, aber durchaus lesenswert.

 

© Parden