Rezension

Fünf Tage bis zu Serdars ganz großem Boxkampf

Großer Bruder Zorn - Johannes Ehrmann

Großer Bruder Zorn
von Johannes Ehrmann

Bewertet mit 4.5 Sternen

Sie leben und arbeiten im Berliner Wedding um den Bellermannplatz herum und einige sind sogar schon seit der 1. Klasse miteinander zur Schule gegangen. Die alleinerziehende Jessi arbeitet an der Supermarktkasse, Serdar Schröder im Spätverkauf seines Stiefvaters, Heinz Hönow ist Juwelier und Aris(toteles) nennt sich Box-Promoter. Ari hat früher auch einmal geboxt und es 1996 irgendwie versemmelt, für Griechenland an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Bei ihm habe ich mich gefragt, was er tut, wenn er gerade keinen Boxkampf organisiert. Im Einzelhandel, in Kneipen und Imbissen kann man keine 5-Tage-Woche erwarten. So erstrecken sich die Ereignisse des Romans auf eine typische Arbeitswoche am Bellermannplatz von Montag bis Samstag. Speziell Jessi hat damit zu kämpfen, dass ihre Frühschicht anfängt, bevor die Kita ihrer Tochter Line öffnet. Ohne Späti kommt ein Berliner nicht aus, aber wie wohl jemand heute noch von einem Schreibwarenladen oder einem Juweliergeschäft leben kann? Ins Stadtbild gehört noch „Flaschenfascho“, ein psychisch erkrankter Ex-Grenzer, der mit soldatischer Disziplin Pfandflaschen sammelt und bei Serdar in Zahlung gibt. Serdar trägt zwar einen türkischen Vornamen, hat seinen leiblichen Vater jedoch noch nie gesehen. Von Serdars langjähriger Partnerin Ella erfährt man in so distanziertem Ton, als wäre sie eine lange vergangene Ex-Freundin. In dieser besonderen Woche, an deren Ende Serdar im Boxkampf gegen einen doppelt so schweren Gegner antreten soll, kreuzen sich in dramatischer Weise die Wege der Menschen vom Bellermannplatz. Hönow will endlich Rache dafür, dass er sich nach dem Überfall auf ihn von Polizei, Presse und Behörden allein gelassen fühlte. Ella will endlich eine Aussprache mit Serdar über ihre Beziehung. Serdar will sich endlich nicht mehr vom alten Schröder herum kommandieren lassen. Wären da noch die Mitglieder des Rolling Devils Motorradclubs in ihrer ganzen Pracht, die Wikinger genannt. Da es im realen Leben selten ein glückliches Ende gibt, wird sich vermutlich einer der Beteiligten bei seiner Aktion das Genick brechen ...

Johannes Ehrmann versammelt hier ganz normale Menschen, die nicht so leicht in die Gänge kommen und bisher darauf gewartet haben, dass sich ihre Probleme von selbst lösen. Ein bisschen mehr Tempo hätte die Handlung haben können, aber man muss die Figuren in ihrer Planlosigkeit nun einmal so ertragen, wie sie sind. Ehrmann erzählt im Präsens aus der allwissenden Perspektive und mit vielen Dialogen. Über seine Figuren hat er in sehr treffendem Sound so Persönliches mitzuteilen, dass ich trotz ihrer offensichtlichen Loserrollen nur Sympathie für sie empfinden konnte. Der Roman hat mich bei aller Langstieligkeit seiner Figuren gerührt und sehr gut unterhalten.

Zitat

„Hinterher, da liegst du dann halb unter dem Laken, den Arm unterm Kopf, und die Gedanken wabern um dich herum, und du guckst hoch zur Decke, du studierst den alten Wasserfleck und wünschst dir, du würdest nicht in so einer Bruchbude hausen und noch einiges mehr. Du liegst da und versuchst nicht zu husten oder allzu laut zu atmen, sie könnte es ja hören. Und du willst dir nicht mal eine anstecken, weil du weißt, dass du damit alles wieder in Gang bringen würdest, mit der nächste Kippe dreht sich die Welt schon weiter, unaufhaltsam, und wer weiß, was dann.
Wer weiß.
Und so liegt […] lieber noch ein bisschen da und wartet auf den Moment, wenn es wieder geht, wenn es wieder okay ist, das Reden und alles andere, und es wäre ihm eigentlich recht, wenn es noch ein bisschen dauern würde.
Und so liegen sie beide da, und eine Weile passiert nichts, und keiner sagt was, weil auch sie anscheinend erst mal genug mit sich selbst zu reden hat
.“ (S. 285)