Rezension

Genau mein Ding!

Lob der Lauheit -

Lob der Lauheit
von Philippe Garnier

Bewertet mit 4.5 Sternen

Für Liebhaber von schönen Worten, Wortspielen und geistigen Gegenbewegungen, jenseits eines Mainstreams!

Philippe Garnier ist in Deutschland nicht wirklich bekannt, zudem hat er auch noch einen  berühmten Namensvetter. Der Autor wurde 1964 in Frankreich geboren, hat Literaturwissenschaft und Philosophie studiert, als Lektor für ein Pariser Verlagshaus gearbeitet und etliche Essays und drei Romane veröffentlicht. Zu den Romanen, die in Deutschland erfolgreich waren, zählt z.B. "Die Entdeckung der Unschärfe".

"Das Lob der Lauheit" ist ein 64seitiger Auszug Garniers 176seitigen Essays "Über die Lauheit", der 2001 via Liebeskind in Deutschland erschien. Ich habe ihn im Erscheinungsjahr 2001 gelesen und jetzt, 2021,  noch einmal nach 2 Jahrzehnten. Beides sowohl der Essay "Über die Lauheit" als auch "Das Lob der Lauheit (veröff. 2019)" sind bezugsfähig (z.B. via Amazon).

Rückband:

"Wer fähig ist zu großen Ehekrächen mit zertrümmertem Geschirr, umgeworfenen Möbeln, eingeschlagenen Fensterscheiben, hat oft auch eine Begabung für Wohnraumgestaltung im großen Stil. Andere hingegen sind weder fähig zu zerstören noch einzurichten: Sie leben zwischen irgendwelchen auf einer Tischdecke abgelegten Dingen, nie reparierten Maschinen, zweifelhaften Töpfen und Gläsern. Es ist unmöglich, seine Wut an etwas auszulassen, was nie Gegenstand besonderer Sorgfalt war".

Bereits diese Zeilen sind sehr metaphorisch, vor allem der letzte Satz hat es mir angetan. Garnier räumt mit dem Mittelmaß auf und plädiert für Müßiggang und eine "eingeschränke Wahrnehmung", die die Voraussetzung für "geistigen Frieden" sei (S.156).  Dabei bezieht er sich auch auf "alte Griechen" wie Epikur. Wer Garnier liest, sollte immer im Hinterkopf behalten, dass der Autor ein ausgemachter Philosoph ist: Alles wird zerflückt, jedes Wort, jeder Gedanke, jedes Konzept, jede Gewohnheit. Wortklauberei auf höchstem Niveau. Garnier versteht es, Ungesagtes, aber auch Gedachtes und Gefühltes in stilistisch hoher Weise und sehr bildhaft in Worte zu kleiden. Er versucht sich an einer Bestandsaufnahme des "Lauen", nicht warm, nicht kalt, nicht Fisch, nicht Fleisch.

Es gibt zu bedenken, wenn Garnier "Komfort" auch ironischerweise als hohen Wert aufführt: "In seinen eigenen Möbeln leben". Man sollte nicht nur seine eigenen Möbel lieben, sondern auch "seine Lieblingswörter, Sprachmarotten, gewohnten Fehler, seine Phobien und seine Ohnmacht" (S.20).

Er führt eine Bedeutungserweiterung des Wortes "Polster" durch. Es sollte nicht nur ein "finanzielles Polster" geben, sondern auch ein Hoffnungspolster, ein Kindheitspolster usw.

"Fern liegt dem Lauen der Gedanke, ein Werk zu vollenden" (S. 61).  Etwas Pessimismus schwingt durch die Zeilen "Die Vorstellung von einem langsamen Niedergang wird zu etwas Vertrautem" (S.65).  Auch nach 20 Jahren ist sein Essay noch hochmodern, so beschreibt er auch die "Lauheit" des Fernsehens und seiner Konsumenten. Seine Aussagen sind auch auf die neuen Medien übertragbar "Die Dauer eines Skandals hat sich nun aber unaufhörlich verkürzt" (S.80), der traurige Gewöhnungsprozess an seelische Entblößung, Fakenews, Hatespeech und cybermobbing in den sozialen Netzwerken.

"Der Verwaltungspapierkram, ob auf Papier oder Computer, ist uns vertrauter geworden als unser eigener Körper" (S.141). Traurig, aber wahr. Homo Faber lässt grüßen. Ein Gedankenanstoß, sich wieder auf das Wesentliche, Ursprüngliche zurückzubesinnen.

Schön sind auch die Passagen über den "Schlaf": "Obwohl der Schlaf mit Abstand der ratsamste Zustand ist (...). und natürlich morgens im Bett herumtrödeln und so lange wie möglich das Vergnügen geniessen,ausgeruht zu sein" (S. 144). Das,was homo moderus heute kaum noch gelingt, ich persönlich mache von diesem Luxus, ausgeruht zu sein und zu trödeln, mit zunehmendem Alter immer mehr Gebrauch. Das morgens im Bett lesen gehört zu meinem Wohlbefinden dazu, bevor ich alle "digitalen Kisten anschmeiße" und sonntags ganz besonders ausgiebig. All die Bildschirme stressen bisweilen, machen nervös und unruhig.

"Geistige Bewegung ist willkommen, wenn sie uns ein angenehmes Gefühl ständiger Bewegung schenkt" (S. 146). Garnier plädiert auch dafür, dass Warten, die Geduld als angenehme Zustände zu empfinden. Vor allem in den sozialen Medien unter Autoren nehme ich immer wieder wahr, wie schwer das Warten fällt, bevor ein Buch veröffentlicht wird, die ersten Rezensionen kommen, der Weg soll abgekürzt werden, der Weg wird zunehmend weniger als das eigentliche Ziel und Genuß empfunden, es muss schnellstmöglich das finale Ziel erreicht werden und dann? "In diesem kleinen, alltäglichen Warten erreicht das Leben seine schönste Ausformung" (S. 154)

"Das Wesentliche ist, verweilen lernen. Das heißt natürlich auch im Scheitern und in der Enttäuschung (...) Man darf nicht versuchen, einen Lebensabschnitt zu verkürzen, außer wenn er wahrhaft unerträglich ist" (S. 160).

Dieses Buch oder dieser Essay ist natürlich nicht blind an eine ganze Lesergemeinde zu empfehlen. Man muss solches lieben. Wer ein Buch abseits des Mainstreams sucht und sich gerne viele Gedanken macht oder auch mal Dinge und Zustände aus einer anderen Warte beleuchtet, wird mit diesem Buch genauso glücklich wie der, der Worte, Wortspiele, literarische Klaubereien, kluge Aphorismen und Bilder liebt. Es ist jedenfalls kein Buch für "Laue".