Rezension

Geniales Debüt

Liebes Kind - Romy Hausmann

Liebes Kind
von Romy Hausmann

Bewertet mit 5 Sternen

Die Handlung beginnt mit einer Vermisstenmeldung. Eine Studentin ist spurlos verschwunden und wir ahnen, dass ihr Verschwinden keine normalen Ursachen hat. Schnell lernen wir die kleine Hannah kennen, die mit ihrer Mutter im Krankenhaus landet. Ihre Mutter wurde von einem Auto angefahren. Hannah beginnt einer Krankenschwester von ihrem Zuhause zu erzählen. Einem Zuhause, das vor allem in einer Hütte stattfindet. Ohne Tageslicht. Ihr ahnt also schon, dass Hannah in sehr ungewöhnlichen Verhältnissen lebt. 
Die Handlung wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Wir lernen eine Frau kennen, die uns als Lena vorgestellt wird und Hannahs Mutter zu sein scheint. Lena scheint schwer traumatisiert. Sie wirkt in sich gekehrt und hat Mühe, wieder in der Normalität anzukommen. 
Hannah scheint sich in der ihr neuen Welt ganz gut einzuleben, solange sie sich an ihre Regeln halten darf. Das können banale Dinge sein, wie beispielsweise sich an das zu halten, was die Erwachsenen sagen. Oder auch ungewöhnliche Regelungen, wie z.B. die Toilette nur zu bestimmten Zeiten aufsuchen zu dürfen. 
Uns wird schnell klar, dass sie in der Isolation, in der sie bisher lebte, viel theoretisches Wissen angehäuft hat und mit einem großen Wissensschatz in die Welt außerhalb der Hütte kommt. Sie scheint das alles als großes Abenteuer anzunehmen, wird aber nervös, wenn ihr Umfeld von manchen Regeln abweicht, oder sie die Rekationen ihres Umfeldes auf diese Regeln nicht nachvollziehen kann. 
In der dritten Perspektive lernen wir Lenas Vater kennen: Einen Vater, der seine Tochter über ein Jahrzehnt vermisst und alles dafür getan hat, um sie zu finden. Als er dann erfährt, dass er eine Enkelin hat, die seiner Tochter so ähnlich sieht, will er nur eines: Dem Mädchen so schnell wie möglich ein richtiges Zuhause bieten. 
Das Erschreckende an diesem Thriller fand ich vor allem, dass Hannah die grausame Welt in der sie lebt, für normal hält. Sie nimmt vieles hin, weil sie schon von klein auf von ihrem Vater so konditioniert wurde, wie er sie und die anderen Familienmitglieder haben möchte. 
Die zwei Perspektiven, auf der einen Seite, die naive Hannah der nicht auffällt, dass das Armband, das ihre Mutter jeden Abend anzieht, kein Armband, sondern eine Handschelle ist und auf der anderen Seite Lena, die diese naive Perspektive durch die harte Realität ergänzt, haben mich diesen Thriller nur schwer ertragen lassen. 
Liebes Kind lebt nicht von der körperlichen Gewalt, die in manchen Thrillern bis ins kleinste Detail beschrieben wird, sondern vor allem durch den Kontrast, den Hannah und Lena darstellen. Es wird immer wieder durch Nebensätze klar, dass auch viel Gewalt in dieser Hütte stattfand. Aber diese muss nicht beschrieben werden. An dieser Stelle zeigt sich gut, dass das, was unausgesprochen bleibt, manchmal genauso schlimm sein kann. 
Was ich ziemlich interessant fand war, wie der Titel Liebes Kind zur Handlung passt. Der Titel eines Romans kann in Nebensätzen versteckt sein, oder er ist eben eine knappe Zusammenfassung des Inhalts. Hier hingegen erwartet uns eine Doppeldeutigkeit: Einerseits haben wir Hannah, die so konditioniert wurde, dass sie nicht widerspricht, sondern angepasst ist. Andererseits erfahren wir nach und nach Dinge über Lena, von denen nicht einmal ihre Familie wusste und die insbesondere für ihren Vater nur schwer zu ertragen sind. 
Der Spannungsbogen von Liebes Kind ist durchweg sehr hoch. Ich habe schon lang keinen Thriller mehr gehört, bei dem ich die meiste Zeit sehr angespannt war und gerade gegen Ende immer hibbeliger wurde, weil es gegen Ende unglaublich spannend wird und völlig unklar ist, ob es auf ein gutes oder ein tragisches Ende hinausläuft. 
Kurz nach der ersten Hälfte von Liebes Kind gibt es aber auch einen Moment der Ruhe. Einerseits könnte man das jetzt als Schwäche auslegen. Andererseits ist es auch sehr erholsam, weil ich das Gefühl hatte, das Hörbuch mal kurz von den Ohren nehmen zu können, ohne vor lauter Neugier verrückt zu werden. 
Die Hörbuchgestaltung ist großartig. Etwas schade ist, dass der Titel nur in gekürzter Fassung produziert wurde. Bis auf eine kleine Stelle, die aber so unbedeutend ist, dass ich sie nicht mal als Nebenhandlung beschreiben würde, habe ich von den Kürzungen nichts gemerkt. Selbst bei dieser Stelle bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, ob es wirklich eine Kürzung war, oder ob der Inhalt, den ich vermisste, auch in der Originalfassung nicht weiter ausgeführt wurde. 
Warum mich die Hörbuchgestaltung dennoch umgehauen hat? Das lag an den Sprecher*innen, die ich zum Teil von einer ganz neuen Seite kennenlernen durfte. 
Heikko Deutschmann schlüpft in die Rolle von Lenas Vater. Bisher kannte ich ihn vor allem als Sprecher der Titel von Fredrik Backman. Dort gibt es auch mal ernste, nachdenkliche Themen, die aber immer mit einer Leichtigkeit verpackt werden, die sich auch in Deutschmanns Interpretation widerspiegelt. Heikko Deutschmann hätte ich hier fast nicht erkannt, weil er gefühlt völlig anders klingt. Er schlüpft in die Rolle eines getriebenen Mannes, der auf der Suche nach innerem Frieden und der Wahrheit ist. Diese Hoffnung, endlich zu erfahren, was mit der eigenen Tochter passiert ist, arbeitet Heikko Deutschmann einfach nur beeindruckend heraus. Er liest nicht etwa gemütlich, sondern spricht Sätze abgehackt und hat hier und da auch etwas Hartes in einer Stimme, das das Chaos, in dem Lenas Vater steckt, treffend darstellt. 
Leonie Landa spricht die Rolle von Hannah. Ihre helle Stimmfarbe und ihre Betonung sorgen sofort dafür, dass ich keine Mühe hatte, ihr die Rolle des Mädchens abzunehmen. Sie schafft es uns Hannahs Perspektive näherzubringen und auch glaubhaft zu vermitteln, wie Hannah denkt. Aber sie arbeitet auch anhand der Dialoge, die Hannah führt, heraus, wie andere Menschen über Hannah denken. Gerade das finde ich unglaublich schwierig, wenn eine Perspektive aus der Ich-Perspektive beschrieben wird und wir als Hörer*innen Informationen bekommen, die dem Charakter, der die Situation erlebt, nicht wirklich bewusst ist. 
Beeindruckend fand ich außerdem, wie Leonie Landa Hannahs Stimmungen interpretiert. Wenn es ihr gut geht und sie sich wohlfühlt, klingt Landas Stimme weich. Wenn Hannah nicht weiter weiß und sich an das Wissen klammert, dass sie in der Gefangenschaft gelernt hat, wird ihre Stimme hart und mechanisch. 
Auch bei Ulrike C. Tscharre, die hier in die Rolle von Lena schlüpft, ist mir etwas in der Art der Interpretation aufgefallen, dass ich von ihr noch nicht so kannte. Bisher habe ich sie vor allem in Rollen erlebt, bei denen es darum ging, die Härte herauszuarbeiten. Lena hingegen spricht sie leise, sodass deutlich wird, wie in sich gekehrt sie ist. 
Romy Hausmanns Schreibstil gefällt mir unglaublich gut. Ich habe schon lange keinen Thriller mehr gehört, der mich inhaltlich und auch sprachlich so begeistern konnte. Hausmann arbeitet die Realitäten, in denen unsere Protagonist*innen leben sehr gut heraus und zwar so, dass ich nachvollziehen kann, warum jede*r von ihnen so handeln muss, wie sie eben handeln. 
Was mir besonders gut gefällt ist, dass Romy Hausmann bei diesem Thriller auf das Beschreiben körperlicher Gewalt verzichtet. Natürlich gibt es hier und da Gewaltszenen. Diese werden aus meiner Sicht aber angedeutet. Somit beweist die Autorin, dass man einen packenden Thriller erzählen kann, ohne dass Hörer*innen das Blut spritzen, oder Knochen knacken hören müssen. 

Gesamteindruck 
Romy Hausmann hat es mit ihrem Debütroman geschafft, mich neugierig auf weitere Titel von ihr zu machen. Es gab schon lange keinen Thriller mehr, der mich so beeindruckt hat. Obwohl ich Thriller Neulingen nach wie vor davon abrate, dieses Hörbuch zu hören, wird Liebes Kind definitiv eines meiner Jahreshighlights werden.