Rezension

Gewinner und Verlierer - zwischen Sozialismus und Kapitalismun

Die Terrakottafrau - Elena Chizhova

Die Terrakottafrau
von Elena Chizhova

Die literaturbegeisterte Hochschullehrerin Tatjana bringt sich und ihre Tochter allein durch, nachdem sie sich von ihrem lethargischen Ehemann, einem weltfremden Historiker, getrennt hat. Kein leichtes Unterfangen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ihr Einkommen reicht oft gerade eben für Grundnahrungsmittel. Als sie dem erfolgreichen Unternehmer Friedrich begegnet und dieser ihr ein lukratives Jobangebot macht, überlegt sie nicht lange: Für Tatjana bricht nun eine Zeit an, in der nicht mehr Rubelnoten, sondern Dollarbündel den Besitzer wechseln. Doch schon bald lernt sie auch die Schattenseiten des Raubtierkapitalismuskennen und muss sich fragen, ob sie ihre moralischen Grundsätze wirklich über Bord werfen kann - und will. Spannend erzählt Elena Chizhova von den wilden Neunzigern in Russland, als die vertraute Ordnung von heute auf morgen auf den Kopf gestellt wurde und sich das ideologische Vakuum mit den Verlockungen des großen Geldes füllte. (dtv-Verlagsseite)

Tatjana lebt gerade ihr drittes Leben: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeitete sie zunächst als Lehrerin und brachte sich und ihre Tochter mit Nachhilfeunterricht eher schlecht als recht über die Runden. Im aufkommenden Kapitalismus, als einige Leute anfingen, sich eine goldene Nase zu verdienen, wird ihr „Talent“ von Friedrich, einem aufstrebenden Kapitalisten, entdeckt und gefördert. Sie versorgt nicht nur ihre Tochter, sondern auch eine Freundin, die ihren Haushalt führt und ihre Tochter erzieht, und deren Sohn. Doch irgendwann zieht Tatjana einen persönlichen Schlussstrich unter ihre Machenschaften in Friedrichs Firma, kehrt wieder zu Privatunterricht zurück und nimmt dabei ihren finanziellen und sozialen Abstieg in Kauf. Ihre Tochter ist inzwischen erwachsen und studiert.

Ein schwerer Brocken Literatur, und trotz der bewundernswerten Arbeit der Übersetzerin, die auf 12 Seiten Erklärungen und Erläuterungen zur russischen Literatur gibt, Anmerkungen und Hinweise zu politischen Hintergründen aufzählt und Details aus dem russischen Alltag beleuchtet, weiß man am Ende nicht, ob man tatsächlich jeden Satz verstanden hat.

Vermutlich ist das Buch in seiner Gesamtheit nur dann zu begreifen, wenn der Leser selbst über profundes Wissen bezüglich Sowjetunion und Russland, seine Geschichte, seine Kultur und seine politischen und gesellschaftlichen Strömungen verfügt.

Auch stilistisch bietet der Roman etliche Hürden: Man erkennt nicht sofort, ob eine Passage in der Gegenwart spielt oder Vergangenes erzählt, denn die Chronologie wird ständig unterbrochen und an anderer Stelle weitergeführt. Auch die Ebenen wechseln: Sowohl reale als auch fiktive Gespräche, die nur in Tatjanas Kopf stattfinden, sind im selben Duktus geschrieben.

Was Tatjana in Friedrichs Firma „arbeitet“, kann mit dem Wort „Zollbetrug“ umschrieben werden; die Einzelheiten mag verstehen, wer sich mit russischen Zollbestimmungen auskennt.

Warum hat Tatjana sich mit ihrer Freundin so entzweit, dass die beiden trotz ihrer gemeinsamen Schulzeit und langen Wohngemeinschaft seit Jahren nicht mehr miteinander reden? Möglich, dass es beschrieben wird; möglich, dass man es zwischen den Zeilen erkennen soll; möglich, dass es offen bleibt.

Glaubhaft und nachvollziehbar geschildert; Die Situation von Menschen, die sich völlig neu orientieren müssen, die erleben, wie das – nicht geliebte, aber vertraute – System zerschlagen wird und eine unbekannte Weltordnung über sie hereinbricht. Die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer bleibt. Wobei die Gewinner von einst es leichter haben, nun auch wieder zu den Gewinnern zu gehören. Die Verlierer auch.

Tatjana gehört nur kurzzeitig zu den Gewinnern; dass sie wieder auf die altvertraute Seite wechselt, ist zwar ihre Entscheidung, doch ihr Gewissen wiegt schwerer als die Leichtigkeit und das Selbstbewusstsein einer gesicherten, wohlhabenden Existenz.

Ein Roman, der Leser erfreut und bereichert, die sich an ihrer Lektüre gerne mal die Zähne ausbeißen.