Rezension

großartiger Jugendroman über einen Schülerselbstmord

Alle Farben grau -

Alle Farben grau
von Martin Schäuble

Bewertet mit 5 Sternen

Mit 16 Jahren ist Paul einfach gegangen und hat sich das Leben genommen. Er wurde erst nach tagelanger Suche gefunden. Eltern, Geschwister, Klassenkameraden und Lehrpersonen sprechen über ihre Begegnung mit ihm und gelangen unweigerlich zur Frage, warum niemandem etwas aufgefallen ist. Wer hätte sich für Paul verantwortlich fühlen müssen? Zu Wort kommen außer Paul selbst Alina (Mitpatientin in der Psychiatrie), Noah (Freund, der Paul aus den Augen verloren hatte), Lien (chinesische Mitschülerin im japanischen Internat), Riku (Japanisch-Lehrer in Deutschland) und Pauls Eltern -  beide Eltern. Die Rückblenden der Erzählerstimmen verlaufen nicht linear, mit ihrem Vorher/Nachher bilden sie Pauls Zerrissenheit glaubhaft ab. Die Vielfalt an Eindrücken fügt sich zur Wirkung eines Teppichs oder Quilts. Man könnte sich in der falschen Sicherheit wiegen, das gesamte Bild wahrzunehmen. „Alle Farben grau“ ist jedoch ein Buch über den Wald, den man (im Umgang mit psychisch Erkrankten) vor Bäumen nicht sieht, den Fleck im Bild, den in Pauls Fall die Beteiligten nicht wahrnehmen konnten und darum nicht rechtzeitig eingreifen.

Mit seiner Eloquenz und Direktheit, seinem Mathe-Talent, endlosen Nerd-Monologen und seinem Bedürfnis nach Alleinsein war Paul schon immer ein Sonderling. Im Dschungel der Pubertät, seiner Japan- und Aikido-Leidenschaft, in rhetorischen Schlachten um Gott und die Welt kann ich mir gut vorstellen, wie schwer es war, hinter seine Maske zu blicken.

Als Paul wegen Selbstgefährdung in die Psychiatrie eingewiesen wird, wird erst dort die Diagnose ADHS gestellt. (Martin Schäuble schreibt im Nachwort, dass 90% der Menschen, die Suizid begehen, eine unentdeckte psychische Erkrankung haben.) Diese Information schockierte alle Beteiligten, die sich theoretisch vorwerfen könnten, dass sie Paul nicht vor den Zumutungen seiner Umwelt schützen konnten.

Der Jugendroman für Leser:innen ab 14 ist empathisch, temporeich und mit trockenem Humor verfasst. Man sollte sich zum Lesen Zeit nehmen und die zusätzliche Spur von Zitaten aus Filmen, Songtexten und PS-Spielen auf sich wirken lassen. Das Buch eignet sich als Klassenlektüre durch die vielfältigen Identifikationsmöglichkeiten, ich empfehle es Lehrenden wegen des blinden Flecks, der hier deutlich wird. Ein Unterrichtsmodell wird beim Verlag erhältlich sein. Hochinteressant ist Pauls Schicksal für Gleichaltrige, besonders Schüler, die als Peer-to-peer Mentoren zur psychischen Gesundheit geschult werden. Die Stimme von Pauls Eltern gibt Ratschläge zum Umgang mit verwaisten Eltern - und natürlich enthält das Buch eine Triggerwarnung/Keynote.

Als Vermittlerin von Jugendliteratur finde ich die Altersempfehlung von 14 Jahren angemessen. Als Mutter, die in ihrem Umfeld einen Schülerselbstmord “aus heiterem Himmel“ erlebte, würde ich meinem eigenen Kind das Buch erheblich früher zu lesen geben. Besser als Jugendliche/r ein forderndes Buch mit komplexer Erzählweise haben als unbeantwortete Fragen ...

 

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