Rezension

großes Rätselraten, dennoch lesenswert

Der Jahrestag -

Der Jahrestag
von Stephanie Bishop

Bewertet mit 4 Sternen

Die Protagonistin dieses in der Ich-Form erzählten Romans ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, Anfang vierzig, und steht vor der Verleihung eines renommierten Literaturpreise für einen ihrer Romane. Sie ist seit 14 Jahren mit einem berühmten Filmemacher verheiratet, den sie als Studentin kennenlernte. Er war ihr Dozent und ist wesentlich älter als sie. Zum 14. Hochzeitstag gehen die beiden auf eine Kreuzfahrt, die sie über Alaska nach Japan zur Kirschblüte führen soll. Der Gatte geht jedoch in einer stürmischen Nacht über Bord und wird tot vor der japanischen Küste angeschwemmt.

Über diesen Roman habe ich mir sehr viele Gedanken gemacht, ja geradezu gerätselt, was die Charaktere, die Handlung, das Genre und das Anliegen der Autorin betrifft. Angefangen mit der Einordnung in ein Genre: anspruchsvolle Literatur, Krimi oder Unterhaltungsroman. Es ist wohl ein Genremix. Mit vielen Krimielementen, weil bis zum Schluß offen bleibt, wie es wirklich zum Tod des Gatten kam. Das war spannend.

Anspruchsvolle Literatur durchaus, weil die Autorin großartig beschreiben kann. Hiermit meine ich die kleinteilige Wiedergabe von alltäglichen Begebenheiten, sei es der Besuch eines Shoppingcenters, sei es das bloße Trinken eines Glas Wassers oder die Beschreibung von Efeu, der sich um eine Londoner Hausfassade rankt. Passagen, in denen es um Natur und Gefühl oder das Einfangen einer ganz bestimmten Atmosphäre eines Augenblicks geht. Selbst fehlende Absätze, denn die Beschreibungen gehen über Seiten, habe ich weder als störend noch deren Lektüre als langweilig empfunden.

Der Roman besticht durch die vielen Schauplätze, in denen er spielt. Australien, wo die Schwester mit Familie wohnt, die Heimat der Protagonistin und wo sie nach dem Unglück zunächst unterkommt. Heißes Klima zur Weihnachtszeit, exotische Flora und Fauna. England und insbesondere London, ganz anderes Klima, Kälte und Regen, aber heimelige Atmosphäre im efeuumrankten Haus. Japan, eine Zugfahrt durch die Inselwelt, die Besonderheiten japanischer Reisegasthäuser. New York, Ort der Preisverleihung, pulsierende Großstadtmetropole.

Seltsam gehetzt und willenlos treibt die Protagonistin nach dem Tod des Ehemannes durch diese Orte, läßt sich von ihrer Verlegerin und ihrer Agentin, später von ihrer Schwester vorschreiben, was als nächstes zu tun ist. Letztlich bleibt ihr Charakter vage, nicht greifbar. Mehr Kontur haben die übrigen Figuren. Ihr charismatischer Ehemann, anfangs Typ ewig Junggebliebener Intellektueller. Die sie dominierende Verlegerin Ada und ihre Agentin Valerie. Ihre Schwester May, mit der sie durch australische Shopping Malls, Schnellimbisse und Partys jagt.

Der Roman ist unterhaltend und spannend, weil immer wieder Wendungen auftreten, mit denen der Leser nicht rechnet. Ich habe gerätselt, welcher Ethnie die Protagonistin angehört, was wirklich los ist mit dem Ehemann, was wirklich geschah in stürmischer Nacht auf dem Schiff und später in Japan beim merkwürdig unglaubhaften Verhör durch die dortige Polizei. Und genau das ist auch das Problem dieses Romans: Was ist wirklich, was kann sich tatsächlich so zugetragen haben, wie die Protagonistin es berichtet, was ist nur in deren Fantasie geschehen ? Die Autorin spielt mit dem Leser. Sie sät Mißtrauen gegenüber der erzählenden Protagonistin. Kann man ihr trauen, lügt sie, erdichtet sie sich ihre eigene Wahrheit ?

Völlig aus dem Kontext gerissen erscheinen Passagen, in denen der Literaturbetrieb kritisiert wird. Als eine von Männern bestimmte Welt, in der Frauen unterrepräsentiert sind und die sich zu sehr am Mainstream orientiert. "Kunst, die ins richtige Horn bläst wird umjubelt und sei es noch so stümperhaft gemacht" , erklärt die Protagonistin. Es scheint, als solle der Leser diese Kritik auf die hier erzählte Geschichte anwenden.

Dann wieder die Schilderung der Szenen ihrer Ehe, die Eheleute anfangs nicht auf Augenhöhe, dann sich intellektuell immer mehr annähernd, zum Schluß zwei gleichwertige Partner, die dennoch nicht zusammenleben können. Sie, überambitioniert, was ihren Beruf als Schriftstellerin angeht. Er überfordert mit ihrem Erfolg, ihre Bewunderung und Fixiertheit auf sich als älteren und erfahrenen Partner der frühen Ehejahre vermissend und gekränkt.

Aber war das alles wirklich so ? Der Roman wimmelt von Ungereimtheiten. Haben wir es hier mit einem einfach nicht plausiblen Plot zu tun oder schauen wir in das Innere der Protagonistin und auf ihre rein subjektiven Wahrnehmungen ? Was will uns die Autorin sagen ? Die Protagonistin scheint eine Entwicklung von der eher schüchternen Studentin zur emanzipierten Schriftstellerin durchzumachen, will mit Blick auf ihre Karriere keine Kinder. Für den Ehemann, der sich mit ihr Kinder wünscht und zu Beginn der Beziehung sagt " Wir beide könnten zusammen so viel erreichen " ist das kein Problem. Bedurfte es für ihre Entwicklung etwa dieses Krimielements und dieses merkwürdigen Schlusses ? Hat sie sich am Ende emanzipiert oder ist das Gegenteil der Fall, fällt sie in typisch weibliche Rollenmuster zurück ? Alles scheint nur so zu sein, wie sie es erzählt, bleibt vage, nicht verläßlich.

Ich fand es dennoch spannend und unterhaltsam und ja, ich habe es gerne gelesen, auch wenn der wahre Charakter der Protagonistin m. E. ungeklärt bleibt. Ich vergebe 4 Sterne und eine Leseempfehlung für alle, die durch das vorher Gesagte nicht abgeschreckt sind. Ein Roman, bei dem es sich lohnt, sich selbst ein Bild zu machen.