Rezension

Historisch und soziologisch interessant

Was mit dem weißen Wilden geschah - François Garde

Was mit dem weißen Wilden geschah
von François Garde

Bewertet mit 5 Sternen

Im Herbst 1858 wird der erst 14-jährige französische Schiffsjunge Narcisse Pelletier (1844-1894) in einer Bucht der damals noch unbekannten Halbinsel Cape York im Nordosten Australiens von der Crew seines Schiffes zurückgelassen. Die nächsten 17 Jahre lebt er in einer Aborigine-Familie, nimmt deren Sitten und Gebräuche an, bis er 1875 von der Besatzung eines englischen Schiffes zufällig als „weißer Wilder“ entdeckt und nach Sidney gebracht wird. Im Herbst 1875 kommt er als 31-Jähriger nach Frankreich zurück. Als Leuchtturmwärter auf einem Außenposten bei Saint-Nazaire heiratet er 1880 eine junge Näherin. Im Alter von nur 50 Jahren stirbt er.

Diese wahre Begebenheit nutzte der französische Regierungsbeamte François Garde (59) vor sechs Jahren als Plot für seinen Debütroman „Was mit dem weißen Wilden geschah“, der noch im Erscheinungsjahr 2012 mit acht Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, darunter dem Prix Goncourt. Nach der deutschen Erstausgabe von 2014 erschien im Dezember 2017 die Taschenbuchausgabe beim dtv-Verlag.

Im Roman verwebt François Garde gekonnt Fakten und Fiktion, lässt Pelletiers Abenteuer schon 1843 beginnen, seine Wiederentdeckung im Jahr 1861, hält aber an den wichtigsten Fakten fest. Durch geschickten Wechsel zweier unterschiedlicher Stilmittel – Abenteuer- und Briefroman – lässt uns der Autor beide Zeitebenen von einander deutlich unterscheiden. Einerseits erleben wir die verzweifelte Eingewöhnungsphase des 18-jährigen Matrosen unter den Ureinwohnern, andererseits erfahren wir in den Briefen eines Amateurwissenschaftlers, des Grafen Octave de Vallombrun, an den Präsidenten der Geographischen Gesellschaft in Paris die komplizierte Wiedereingliederung des inzwischen 36-Jährigen in die französische Gesellschaft. Der Graf hatte sich während eines Aufenthalts in Sidney des „weißen Wilden“, der während der zwei Jahrzehnte im Busch jede Erinnerung an Frankreich und seine Muttersprache verloren hatte, fürsorglich angenommen, nachdem man in ihm einen Franzosen erkannt zu haben glaubte.

Die Dramatik des Romans zeigt sich in der Tatsache, dass dem jungen Narcisse Pelletier gleich zweimal seine Identität gestohlen wird: Nach dem Verlust jeglicher Verbindung in die französische Heimat hatte er sich nach Tagen der Hoffnung auf Rettung, dann der verzweifelten Todessehnsucht schließlich doch in das Leben und die Gesellschaft, in die Riten und Bräuche der urzeitlich nackt lebenden Jäger und Sammler eingewöhnt und war schließlich von ihnen aufgenommen worden. Er hatte ein neues Leben begonnen, sich eine neue Identität gegeben. Durch sein Wiederauffinden und das Bemühen anderer, ihn wieder in die französische Gesellschaft einzugliedern, nimmt man ihm nun zum zweiten Mal seine Identität, die sich Pelletier allerdings durch hartnäckiges Schweigen zu bewahren sucht: „Reden ist wie Sterben.“

François Gardes völlig zu Recht prämierter und absolut spannender Debütroman ist nicht nur historisch interessant, sondern auch soziologisch. Zumal über allem die heute wieder heiß diskutierte Frage steht, was Integration wirklich bedeutet: Gilt nur die unbedingte Einordnung oder eher das Motto „leben und leben lassen“?