Rezension

Humorvoller Klassiker für Tom-Sawyer-Leser

Mein genialer Bruder und ich
von John D. Fitzgerald

Bewertet mit 5 Sternen

Johns Bruder Tom hat seinen Tom Sawyer genau gelesen. Als der Klempner im Garten Kanalgraben und Jauchegrube für das neue Wasserklosett aushebt, vermietet Tom Dennis Fitzgerald für einen Cent Stehplätze auf der Veranda an die Kinder von Adenville. Vater Fitzgerald hatte, wie alle seine verrückten Anschaffungen vorher, das Klo samt Zubehör im Versandhaus Sears und Roebuck bestellt. Für eine große Familie wie die Fitzgeralds genügte bisher ein Vierloch-Plumpsklo im Garten. Ein Wasserklosett im Haus? Das würde doch sowieso nicht funktionieren, unken die Nachbarn. Adenville im Jahr 1896 ist längst nicht so hinterwäldlerisch wie die sanitäre Ausstattung glauben lässt. Es gibt bereits Telefon und eine zentrale Wasserversorgung. In der Kleinstadt im US-Staat Utah leben 2000 Mormonen und 500 Bürger anderer Konfessionen. Man existiert nebeneinander und lässt sich gegenseitig in Ruhe. Fremde Einflüsse gelangen in den Ort nur durch eine griechische Einwanderer-Familie und einen fahrenden Händler, der Jude ist.

Toms Versuch mit der Einführung des ersten WCs in Adenville Kasse zu machen, bleibt nicht seine einzige Geschäftsidee. Der mittlere Sohn der Fitzgeralds zeigt besonderes Talent darin, andere für sich arbeiten zu lassen und selbst den Gewinn oder das Lob einzustreichen. Gegenüber Vater Fitzgeralds außergewöhnlichen Ideen sind inzwischen alle misstrausich; bei Toms Plänen könnte etwas mehr Misstrauen nicht schaden. Der siebenjährige John steht ganz im Schatten seines raffinierten älteren Bruders. John möchte endlich auch mal mit einer schlauen Idee im Mittelpunkt stehen. Als Tom seinen Denkapparat anwirft, um sich am ungerechten prügelnden Lehrer zu rächen, scheint der mittlere Fitzgerald mal wieder in Führung um den Titel des Dorf-Genies zu liegen.

In Adenville leben Eltern ihrem Nachwuchs konsequent Werte vor, Kinder haben neben ihren Pflichten ausreichend Freiräume, um Abenteuer zu erleben. Die Jungen, Schüler einer einklassigen Zwergschule, müssen Holz und Kohle ins Haus tragen, die Tiere füttern, Gras mähen und Unkraut im Gemüsegarten jäten. Erst nachdem die Mutter die Arbeiten für gut befunden hat, dürfen die Jungs zum Spielen gehen. Eine stets sorgende, gerechte Mutter, die sich von ihrem mittleren Sohn Tom dennoch nicht auf der Nase herumtanzen lässt, ein humorvoller, belesener Vater, ein Onkel in der Rolle des Hilfs-Sheriffs, ein treuer Alaskan Malamud, der John schon seit seinem fünften Geburtstag begleitet - die Kindheit der Brüder Fitzgerald wirkt auf den ersten Blick idyllisch. Neben der Betonung gegenseitiger Hilfsbereitschaft beschreibt der Autor ungeschönt den wenig idyllischen Alltag des 19. Jahrhunderts mit schweren Krankheiten, Unfällen und Todesfällen. Mögliche Konflikte zwischen Mormonen und Christen werden nur angedeutet. Fitzgerald scheut sich nicht vor nationalistischen Untertönen, wenn die Jungen sich um die Ehre prügeln, echte Amerikaner zu sein und nicht nur auf dem Papier die amerikanische Staatsbürgerschaft zu besitzen.

John Fitzgerald, der Generationen von Lesern mit "Vater heiratet eine Mormonin" unterhielt, veröffentlichte 1969 den ersten Band der Kinderbuchreihe "The great brain", in Deutschland 1972 unter dem Titel "Das hat der Kopf sich ausgedacht" erschienen. Mit dem ausgebufften Tom hat der Autor (dessen Mutter Mormonin war) seinem älteren Bruder ein Denkmal gesetzt. Allein schon die hinreißende Szene, wie das Spülklosett nach Adenville gelangte, lohnt die Lektüre des Kinderbuchklassikers. Mit leuchtend blauem Leseband wird die nicht nur heitere Lausbubengeschichte in deutlicher Schrifttype, in neuer Übersetzung und illustriert von Katrin Engelking nach 40 Jahren wiederaufgelegt. Empfohlen für Leser ab 9 Jahren.