Rezension

Idealer Einstieg

Gräser der Nacht - Patrick Modiano

Gräser der Nacht
von Patrick Modiano

Bewertet mit 5 Sternen

"Gräser der Nacht", der neue Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano bietet einen wunderbaren Einstieg in das zahl-, wenn auch jeweils nicht sehr umfangreiche Werk des französischen Schriftstellers. 
All seine bekannten und immer wieder virtuos variierten Motive sind vorhanden: Der stark an seinen Autor angelehnte Ich-Erzähler; die Suche nach Episoden aus der Vergangenheit, die flüchtig und ungreifbar bleiben; die rätselhaften, oft recht zwielichtigen Gestalten, an die er sich dabei erinnert; die Sechziger Jahre; die Bars und Cafés; das tastende und zweifelnde Vorgehen und natürlich die große Protagonistin all seiner Romane: die Stadt Paris.
Zugleich erzählt Patrick Modiano seine Geschichte überraschend geradlinig, baut fast eine Art Krimiplot mit einer eigenartigen Spannung.
Es geht um Ereignisse aus dem Jahr 1965, Anspielungen auf ein tatsächliches Ereignis, die Entführung und Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barkas finden sich zuhauf, auch Personen aus Modianos autobiografischem Werk "Ein Stammbaum" tauchen auf. Anhand von Notizen in einem kleinen schwarzen Büchlein, versucht der Ich-Erzähler Jean, auf diese Ereignisse zurückzublicken, vor allem auf die Person seiner damaligen Freundin Dannie, die darin verstrickt gewesen zu sein scheint und irgendwann spurlos verschwand. 
Im Roman wird der Vorgang des Erinnern einmal so geschildert:

"Du bist allein, hellwach, als wolltest du Morsezeichen auffangen, die ein unbekannter Korrespondent dir aus weiter Ferne schickt. Natürlich, viele Zeichen sind gestört, und auch wenn du die Ohren spitzt, gehen sie für immer verloren. Doch ein paar Namen lösen sich ganz deutlich aus der Stille und von der weißen Seite..."

Wie immer in Modianos Romanen bleibt die Erinnerung vage, ungreifbar, die Personen und Geschehnisse nebelhaft, flüchtig. Die Zeit, wie sich die Ebenen von Gegenwart und Vergangenheit übereinander lagern, die Grenzen verschwimmen, ein beherrschendes Thema.

"Aber Sonntage, vor allem, wenn du allein bist, reißen eine Bresche in die Zeit."

"Sie würden nie erfahren, dass die Zeit wogt, sich weitet, dann wieder stillsteht und einem allmählich jenes Gefühl von Ferien und Unendlichkeit gibt, das andere in Drogen suchen, ich aber ganz einfach im Warten fand."

Und so streift der Erzähler so wie in fast allen Werken Modianos mehr oder weniger ziellos durch die Straßen.

"Seit meiner Jugend - und sogar meiner Kindheit - war ich immer nur gegangen, und stets durch dieselben Straßen, so dass die Zeit durchsichtig geworden war."

Ebenfalls wie in fast allen Werken begegnet der Autor/Erzähler der Vagheit der Erinnerungen mit einer absoluten Präzision bei Ortsangaben.

"Ich brauchte Orientierungspunkte, Namen von Metrostationen, Hausnummern, Stammbäume von Hunden, als fürchtete ich, die Leute und Dinge könnten von einem Augenblick auf den anderen unsichtbar werden oder verschwinden, und ich müsste wenigstens einen Beweis ihrer Existenz aufbewahren."

Also wieder ein typischer Modiano, der sich einreiht in dieses große Lebensbuch, das der Autor fortschreibt, leise, tastend, in ungeheurer sprachlicher Schönheit.