Rezension

In der gesichtslosen Masse verloren

Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar

Ich nannte ihn Krawatte
von Milena Michiko Flasar

Bewertet mit 5 Sternen

Der Mann sah aus wie ein Salaryman, so werden in Japan Büro-Angestellte genannt, und verspeiste auf einer Parkbank ein Frühstück aus einer Bentobox. Milena Michiko Flašar, Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, schafft in ihrer stimmungsvollen Erzählung eine japanische Enklave. In welchem Land der noch namenlose Mann sein Lunchpaket öffnet ist nicht wichtig. Er handelt wie ein Japaner, wird mit japanischem Wortschatz beschrieben und seine Frau, die täglich Stunden vor ihm aufsteht, um den Inhalt der Bentobox frisch zuzubereiten, handelt traditionell wie eine japanische Ehefrau. Jeden Morgen bindet sie ihrem Mann die Krawatte, eher er das Haus verlässt. Beobachtet wird der Geschäftsmann im Park von einer anderen Bank aus durch einen jüngeren Mann, der dem Älteren den Spitznamen Krawatte gibt. Als Anzugträger oder Krawattenträger wird der so etikettierte Mann Teil einer gesichtslosen Masse. Der Jüngere will ursprünglich niemandem begegnen, sich nicht verwickeln, er ist ein Hikikomori. Seit zwei Jahren hat er sich dem Leistungsdruck der japanischen Gesellschaft entzogen, indem er sein Zimmer im Elternhaus einfach nicht mehr verlassen hat. Ein blasser Gefangener ist im Park auf Freigang, den die Welt in ihrer Farbigkeit nun förmlich anschreit. Beide Männer erzählen abwechselnd in der Ich-Form, nicht immer ist sofort klar, wer gerade spricht. Zunächst noch wortlos nähern die beiden Opfer einer gnadenlosen Leistungsgesellschaft sich millimeterweise einander an, entdecken die Geschichte des jeweils anderen und vermutlich auch wieder Sinn in ihrem Leben. Eine Kultur des Ausweichens portraitiert die in Österreich lebende Autorin in knappen Worten, getragen durch Figuren wie die Mutter des jungen Hikikomori, die ihren Sohn schweigend versorgt. Dass in drangvoller Enge Strategien nötig sind, um wenigstens persönliche Distanz vorzugeben, wird aus dem Erleben des Jüngeren verständlich. Beide Männer haben miterlebt, wie der Druck der japanischen Gesellschaft Mitschüler direkt in den Tod trieb. Erst ihr Tod brachte private Dinge in die Öffentlichkeit, die sonst traditionell verborgen werden. Der Ältere blickt zudem auf eine Ehe zurück, die stets hinter den Ansprüchen seiner Firma zurückstehen musste, und auf seinen behinderten Sohn, auch er voller Scham verschwiegen. Beide lüften allmählich ihre Masken, geben sich einander als Seelenzwillinge zu erkennen und verlieren sich wieder aus den Augen. Zurück bleibt - die gestreifte Krawatte.

Flašars melancholische Erzählung gibt die Persönlichkeit der beiden Männer nur zögernd preis. Nachdem ich die letzte Seite des Buches gelesen hatte, habe ich sofort wieder von vorn begonnen, um mehr Vertrautes im Fremden zu entdecken, als es mir beim ersten Lesen gelungen ist. Ein ungewöhnlich lohnenswertes Leserlebnis für Leser, die sich auf eine Erzählung einlassen wollen, ohne von ihr heitere Unterhaltung zu erwarten.

Textauszug
"Denn wie sollte man ein Gespenst zur Anzeige bringen? Wie sollte man erklären, dass einer verschwunden ist, der ohnehin schon verschwunden war? Wie beschreiben, dass man ihn vermisst, obwohl er schon lange davor abhängig gewesen war? Und doch wünschte ich mir, sobald der Morgen graute, nichts anderes als eben das: Dass man mich suchte und fände. Mich an den Schultern packte, mir ins Gesicht schlüge und fragte: Wie ist es dazu gekommen, dass wir uns dermaßen verfehlten?" S. 86/87