Rezension

In Würde!

Himmelsstaub - Johannes Sieben

Himmelsstaub
von Johannes Sieben

Bewertet mit 4 Sternen

»Dumpf, wie durch Watte, höre ich das Martinshorn. Dieses verhasste Geräusch. Wie oft habe ich es verflucht, als ich selbst noch als Notarzt mit dem Rettungswagen den ganzen Tag und auch in der Nacht unterwegs war. Hatte selten was Gutes zu bedeuten. … Warum höre ich jetzt wieder dieses verhasste Horn? Es nähert sich. Der Rettungswagen ist doch eben hier mit meinem Patienten Josef weggefahren. Warum kommt der zurück? Stimmt da was nicht? Ist da etwas passiert unterwegs? Mir kommt das auch alles so seltsam vor. Warum liege ich hier auf dem Hof auf der Erde? Ich sehe nur verschwommen meine Frau, die sich über mich beugt und ständig meinen Namen ruft. Auch meine Angestellten stehen um mich herum. Das Martinshorn wird immer lauter, bis es urplötzlich verstummt.«

Dr. Johannes Sieben führt seit fast 30 Jahren eine Landarztpraxis in einem kleinen Dorf im Rheinland. Er liebt sein Leben und seinen Beruf, ist glücklich mit seiner Familie, dem Hund und dem alten Bauernhof, an dem immer etwas zu machen ist. Von einem Tag auf den anderen ist es damit vorbei. Johannes hat gerade noch einen Patienten behandelt, als er zu Boden sinkt.

 

Im Krankenhaus ist schnell für alle klar: Dieser Patient liegt im Wachkoma. Er ist ohne Bewusstsein, kann sich nicht bewegen, nichts hören, nicht sehen, nicht sprechen und nicht fühlen. Fatalerweise irren sie. Johannes ist sehr wohl bei Bewusstsein, er hört alles um ihn herum und er sieht, was im Blickfeld seiner starr aufgerissenen Augen passiert. Aber er kann sie nicht schließen, wenn man ihm mit Lampen hineinleuchtet, er kann sich nicht bemerkbar machen, wenn er Schmerzen leidet, er kann sich nicht im Geringsten mitteilen.

»Johannes, was machst du? Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Bleib hier! Verlass uns nicht! Wir brauchen dich doch noch!« Ich sehe ein paar Tränen in ihren rehbraunen Augen. Sie verschwindet aus meinem Blickfeld, meine Hand weiter festhaltend. Ich versuche, die Hand zu bewegen. Nichts. Ich will sprechen. Nichts. Ihr mit den Augen folgen. Nichts. Nichts. Nichts kann ich. Ich verzweifle. Muss ihr doch irgendwie klarmachen, dass ich sie höre, sehe, rieche, fühle!«

 

Wer sich auf dieses Buch einlässt, dem muss klar sein, dass er sich hier harten Stoff antut. Allein die Vorstellung dieser Situation ist ein Alptraum, die Schilderungen im Buch manchmal unerträglich. Wenn Johannes zwischendurch in gnädigen Schlaf fällt, träumt er sehr intensiv. In diesen Träumen tauchen Erinnerungen an sein Leben auf, an seine Kindheit, sein Studium, an Freundinnen und an seine Anfänge als Arzt. Diese Berichte sind sehr lebendig geschrieben, man empfindet deutlich die Lebensfreude, die Johannes eigentlich in sich trägt. Schon immer war er ein Kämpfer, einer, der gerne mal aneckt und nicht so schnell aufgibt. Das will er auch in seiner aktuellen Situation nicht. Manches Mal heißt sein Mittel gegen aufsteigende Depression Sarkasmus und die Flucht in die Träume ist ein Kraftholen für die nächste Runde in der Gegenwart.

 

Der Autor erzählt hier zum Teil seine eigene Geschichte. Er ist tatsächlich seit fast 30 Jahren Landarzt und alles, was er über sich, seine Vergangenheit und seine Familie erzählt, ist authentisch. Fiktiv ist natürlich der Teil, der sich mit dem Wachkoma befasst. Allerdings hat er seine Erfahrungen, die aus dem langjährigen Umgang mit Patienten, Kollegen, Krankenhäusern und Pflegeheimen resultieren, hier eingebunden. Bei diesen Erfahrungen gab es einige gute, aber leider auch einige sehr schlechte. Vor allem scheint es ihm ein Bedürfnis zu sein, all die Missstände im Gesundheitswesen und im Umgang mit Kranken und Pflegebedürftigen hier in aller Offenheit und schonungslos darzustellen. An dieser Stelle habe ich mich allerdings gefragt, ob es realistisch ist, dass all diese Dinge demselben Menschen widerfahren. Wobei – vielleicht will ich daran auch nur zweifeln. Auf jeden Fall bringt das Buch den Leser zum Nachdenken, ganz in der Intention des Autors:

»Ich dachte, ja, das könnte den ein oder anderen wachrütteln, zum Nachdenken bringen, sensibilisieren. Die Welt verändern zu wollen, wäre vermessen und größenwahnsinnig. Ein klein wenig dazu beizutragen, die Dinge anders, skeptischer zu sehen, das ist eher schon realistisch.«

 

So wenig, wie es dem Protagonisten und seinen Angehörigen leicht gemacht wird, so wenig wird es dem Leser leicht gemacht. Was richtig ist und was falsch, ist manchmal schwer zu sagen. Was sollte ein Arzt tun – was sollte er nicht tun? Leben oder Tod, Hoffnung oder Resignation, Kampf oder Aufgabe – diese Entscheidungen sind nicht einfach und sollten es auch nicht sein.

 

Fazit: Dieses Buch lässt keinen kalt. Schonungslos, intensiv und ganz viel Stoff zum Nachdenken. 

 

»So, wie jeder Mensch ein Recht auf das Leben hat, hat er auch ein Recht auf den Tod! Auf einen humanen und würdigen Tod, meine Herren! Merken Sie sich das bitte für Ihr ganzes Leben, als Mensch und vor allem als Arzt! Wenn wir nichts mehr zur Heilung beitragen können, und keine Hoffnung mehr auf Besserung besteht, sind wir ethisch verpflichtet, dem Patienten zu einem menschenwürdigen Tod zu verhelfen! Das heißt nicht töten! Das heißt, sterben lassen! In Würde! Ärzte sollen das Leben verlängern, nicht das Sterben!«