Rezension

Indien - Land der tausend Ungeheuerlichkeiten

Das Gleichgewicht der Welt - Rohinton Mistry

Das Gleichgewicht der Welt
von Rohinton Mistry

Bewertet mit 4 Sternen

Es gibt Romane, die sind wie Unfall, man möchte nicht starren, kann aber den Blick nicht abwenden. Indien-Romane haben diese Wirkung auf mich. Mich erschüttert die schiere Masse der Menschen, der krasse Gegensatz von Reichtum und Elend, dem tiefverwurzelten Kastendenken, die himmelschreiende Frauenverachtung, das lethargische Akzeptieren von Gegebenheiten... ich könnte noch so viele Dinge aufzählen, die mir dieses faszinierende Land verleiden, möchte mich aber hier zum Roman "Das Gleichgewicht der Welt" von Rohinton Mistry auslassen.

Er spielt in schwierigen Zeiten, als die Ministerpräsidentin Indira Gandhi die Unruhen im Land mit Notstandsgesetzen (1971- 1977) unter Kontrolle zu bringen versucht und damit die größten Willküraktionen von Polizei und anderen staatlichen Angestellten in einvernehmlicher Zusammenarbeit mit den "Mächtigen" des Landes auslösen.

Der Onkel Ishvar und sein Neffe Omprakash haben den Absprung aus der Ledergerberkaste geschafft. Sie suchen als Schneider ihr Glück in Bombay und kommen schließlich nach einigen Rückschlägen und prekären Wohnverhältnissen bei Dina Dalal unter. Dina ist 40 und schon seit 20 Jahren verwitwet. Die Miete für die bescheidene Wohnung versucht sie mit dem Studenten Maneck als Untermieter zu sichern. Der Rest der Unterkunft wird zur Schneiderwerkstatt umfunktioniert.

Die Vier versuchen ihren Alltag zu meistern, doch immer wieder schlägt das Schicksal, oder hier doch besser die Willkür zu. Die beiden Schneider geraten in ein Arbeitslager, Dina muss sich der nachhaltigen Drohung vom Rausschmiss aus ihrer Wohnung erwehren und Maneck kämpft mit seinen Dämonen, die ihn aus dem Studentenwohnheim vertrieben haben.

Auf tausend Seiten bleibt viel Platz für viele Ungeheuerlichkeiten. Alles Unangenehme, das man sich in Gedanken an dieses Land denken mag, wird auch aufgezählt. Hygienische Verhältnisse, prekäre, kaum denkbare Jobs (Haarsammler, Familienplanungsagenten...), erstaunliche Cooperationen, die mit dem Bettlermeister einhergehen, Staatsaktionen, die sinnlos ganze Slums abreißen, ohne sich Gedanken um die dann Obdachlosen zu machen. Gewalt, schamlose Skrupellosigkeit bis hin zu Mord und Totschlag, in einer Fülle, wie sie nur in einem so bevölkerungsreichen Land geschehen, doch kaum Aufmerksamkeit erregen.

Mir aber wurde das alles zu viel. Neben Passagen von fast kindlicher Fabulierlust und dem naiven Schicksalsglauben, kamen mir die Gewaltszenen wie hingeworfene Nebensächlichkeiten vor, die "nun mal dazugehören". Der Autor ergeht sich fast schon fetischfreudig in Sterilisations- und Haarklauszenen. Sein ganzes Romanpersonal versinkt, stirbt, steigt ab und schließlich wird sogar Freundschaft verleugnet.

Diese Aufzählung von Missständen im Land mochten 1995 ihre Berechtigung haben, Mistry tat gut daran sie in geballter Form dem westlich verwöhnten Publikum um die Ohren zu hauen. Matthias Müller übersetzte aus dem Englischen. Mir aber bleibt der Wunsch, dass sich das Land inzwischen weiterentwickelt hat. Junge, gut ausgebildete Informatiker und Ingenieure usw. haben hoffentlich ihre Standesdünkel abgelegt und führen ihr Land raus aus dem Kastensystem.