Rezension

Intime Autobiographie über das Leben mit einem autistischen Kind

Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können - Tessa Korber

Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
von Tessa Korber

Bewertet mit 5 Sternen

„Löwenmut, Glaube, Liebe, Einsatz – das werden Sie alles zur Genüge brauchen. Aber heilen werden Sie Ihr Kind damit nicht. Sie sind Sisyphus, nicht Jesus.“ (S. 158)

Tessa Korber hat die Geschichte ihres Sohnes Simon aufgeschrieben. Simon ist Autist, und die Autorin schildert, wie schwierig und zermürbend der Alltag mit einem autistischen Sohn ist, erzählt von den täglichen Kämpfen gegen Simon, sich selbst, Behörden und intolerante Mitmenschen.
Dabei ist Frau Korber stets schonungslos ehrlich und beschönigt nichts. Der Leser gewinnt einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt einer Mutter, die zeitweise an ihren Sohn überhaupt nicht herankommt, bei seinen vielen Anfällen hilflos daneben steht, manchmal auch Wut und Hass verspürt, und die auf die Frage, ob Simon sie lieb hat, die Antwort erhält „Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können.“

Die Autorin erzählt die Geschichte ab Simons Geburt im Jahr 2000 bis heute. Das Erstaunliche daran ist, dass Simon sich die ersten 3 Jahre ganz normal entwickelte. Erst dann stellten sich immer mehr Ticks und Probleme ein, bis Simon sich komplett verschloss, kaum noch mit seinem Umfeld kommunizierte, zuweilen aggressiv und handgreiflich wurde. Die Eltern waren ratlos, und es sollten noch mehrere Jahre vergehen, bis endlich die Diagnose „Autismus“ gestellt wird. Ab da ist der Feind greifbar, hat einen Namen und ein Gesicht. Und Frau Korber kämpft um ihr Kind, um Therapien, um einen Weg der Kommunikation mit Simon, um Verständnis von außen, um eine geeignete Schule. Hierbei kann sie viele Erfolge, aber auch zahlreiche Rückschläge verbuchen.

Diese Offenheit der Autorin macht das Buch so interessant. Sie erzählt, welch schlimme Erlebnisse sie mit Simon hatte, auch wenn es natürlich auch ein paar schöne Momente gab. Sie erzählt offen, wie groß ihre Verzweiflung oft ist, dass sie – auch schon vor Simons Geburt – an Depressionen litt, welche sich unter der neuen Situation mit Simon verschlimmerten bis hin zu Selbstmordgedanken. Sie beschönigt nichts.

Der Leser erhält sehr interessante Informationen über Autismus. Man geht den Weg zusammen mit der Autorin: Das Unwissen und die große Frage, an welcher Krankheit oder Behinderung Simon leidet, die mühseligen Gänge zu Ärzten, Logopäden, Psychologen, dann endlich die Diagnose, die das Problem greifbarer macht, und dann die Therapien, die Versuche, Simon an einer geeigneten Schule unterzubringen. Man erfährt, was die „gestützte Kommunikation“ ist, eine wertvolle Methode, mit der sich Autisten ohne Worte verständigen können. Ich fand die von Frau Korber geschilderten Therapieansätze, Versuche, Wege und Möglichkeiten der Erleichterung im Umgang mit einem Autisten sehr interessant. Es ist erstaunlich, was sich alles bewerkstelligen lässt, wenn die Diagnose erstmal bekannt ist. Es war für mich immer wieder erstaunlich, wenn Simon etwas Intelligentes sagte oder schrieb. Denn viele Jahre lang glaubte man einfach, dass er zu so etwas nicht fähig sei. Umso schlimmer, dass er "innen" so fit ist, aber nichts nach außen tragen kann und solche Probleme mit den kleinsten Dingen im Alltag hat. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie schlimm das für das Umfeld, v. a. für die Mutter ist.

Bei allem ist stets das Gefühlsleben der Autorin im Vordergrund, und da tut sich einem die ganze Bandbreite von Gefühlen auf: Von Liebe und Fürsorge bis zu blanker Verzweiflung und Hass. Simons Gefühlswelt bleibt uns leider weitestgehend verschlossen, denn als Autist kann er sich diesbezüglich nicht (richtig) mitteilen. Man kann nur erahnen, wie schlimm es für ihn selbst ist. Man denkt lange Zeit, er lebt in seiner eigenen kleinen Welt (Was er ja gewissermaßen auch tut.) und für ihn ist alles ok so, wie es ist. Aber als er anfängt, seine Gedanken durch die gestützte Kommunikation nach außen zu tragen, erfährt man, dass er sich auch nicht als normal sieht, dass er verzweifelt an seiner Andersartigkeit. Das ist richtig schlimm und man möchte den kleinen Mann einfach nur umarmen – was er ja aber niemals zulassen würde bei einer fremden Person, ja manchmal selbst nicht bei der eigenen Mutter.

Darüber hinaus erzählt Tessa Korber von ihrem ältesten Sohn Jonathan, wie er mit der Situation umging, mal gut, mal weniger gut, denn als „gesundes Geschwisterkind“ musste er meist zurückstecken. Simons Vater bleibt etwas im Hintergrund, was sich dadurch erklären lässt, dass er nicht nur als Hauptverdiener oft abwesend war, sondern auch mit der Situation schlechter zurechtkam als seine Frau und sich aus Verzweiflung mehr und mehr zurückzog bei der Erziehung, bis es schließlich zur Scheidung kam.

Frau Korber ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, und das merkt man ihrem Schreibstil an, der meines Erachtens recht anspruchsvoll und trotz all der Emotionen manchmal etwas sachlich-nüchtern ist. Zeitweise wurde bei mir dadurch eine gewisse Distanz zur Autorin gewahrt. Anfänglich musste ich auf der logischen Ebene versuchen, ihre Gefühle nachzuempfinden, sie konnte mich leider nicht auf der emotionalen Ebene erreichen. Das änderte sich jedoch im Laufe des Buches sehr schnell. U. a. war wohl auch der Exkurs „Scheiße, Arsch und Hass“ ein Grund dafür, in dem sich Frau Korber mal so richtig „gehen lässt“ und sich mit klaren, harten Worten einfach mal so richtig auskotzt. Irgendwann konnte ich alles nahezu mitfühlen, die Verzweiflung, die Wut, die Erschöpfung. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, konnte es kaum aus der Hand legen, aber es war auch auf eine gewisse Weise richtiggehend erschöpfend.

Ich kann das Buch jedem wärmstens empfehlen, v. a., aber nicht nur Lesern, die sich für das Thema Autismus interessieren!