Rezension

Jazz-City Chicago

Die Musik der verlorenen Kinder
von Mary Morris

Bewertet mit 5 Sternen

~~1920er Jahre, Chicago. Benny Lehrmann entstammt einer jüdischen Familie und lebt mit seinen Eltern und seinen zwei Brüdern in Chicago, wo der Vater ein Kappengeschäft betreibt. Seit Benny bei einem heftigen Schneesturm seinen jüngsten Bruder auf dem Weg zur Schule verlor und dieser Wochen später erfroren aufgefunden wurde, geben seine Eltern ihm unterschwellig die Schuld für dieses Unglück. Benny soll später das Geschäft übernehmen, aber daran hat er überhaupt kein Interesse. Lieber streift er bei Botengängen durch die schwarzen Viertel der Stadt und lauscht den Musikklängen, die dort aus den Bars und einschlägigen Etablissements zu ihm auf die Straße hinausschallen – und das als Weißer. Bennys Hände sind immer in Bewegung, er hat ständig Musik im Kopf und hofft auf eine Karriere als Pianist. Als eines Tages die Fähre Eastland im Hafen versinkt, ist Benny rechtzeitig zur Stelle und hilft bei der Bergung von Menschen. Dabei lernt er die junge Pearl kennen, die durch das Unglück gleich drei Brüder verliert. Die beiden verlieren sich danach aus den Augen, aber die Liebe zur Musik führt Benny Jahre später in den Nachtclub von Pearls Familie…
Mary Morris hat mit ihrem Buch „Die Musik der verlorenen Kinder“ einen sehr gefühlvollen Roman voller Atmosphäre vorgelegt. Der Schreibstil ist flüssig, dabei melancholisch und durch und durch von der Liebe zur Musik geprägt. Die Autorin beschränkt sich nicht nur auf ein Thema, sondern beleuchtet die Stadt Chicago der 20er Jahre von allen Seiten, wo die Mafia herrschte, die Prohibition galt und der Rassismus einen seiner Höhepunkte hatte, indem es Stadtviertel nur für Schwarze oder für Weiße gab. Aber über all diesen Konfliktpunkten schwebte die Musik, wobei der Jazz den Mittelpunkt bildet. Viele farbige Musiker machten sich damals aus den Südstaaten auf den Weg nach Chicago, um dort in den Bars und Konzertsälen zu spielen, allen voran Louis Armstrong. Die Erzählweise der Autorin lässt diese Zeit regelrecht wieder auferstehen und den Leser daran teilhaben.
Die Charaktere sind vielfältig angelegt und in ihrer Form detailliert ausgestaltet. Benny ist ein Eigenbrötler, dessen Gedanken nur aus Musik zu bestehen scheinen. Er ist rastlos, verliert sich in Gedanken an die Musik, die ihn tröstet und ihm Geborgenheit gibt. Nur in ihr kann er seine Gefühle ausleben und sich Gehör verschaffen für die Dinge, die ihm wichtig sind, die er gesehen hat und die ihm in der Erinnerung geblieben sind. Napoleon Hill ist ein schwarzer Trompeter, der ebenfalls für die Musik lebt und atmet. Er ist einfühlsam, vor allem aufmerksam und wird zum besten Freund von Benny. Die beiden verstehen sich blind, wenn es ums Musizieren geht und helfen sich gegenseitig bei ihren Auftritten. Pearl ist eine junge Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter die Familie zusammenhält. Sie kümmert sich mit ihren Brüdern um die eigene Bar und versucht, ihren jüngeren Schwestern die Mutter zu ersetzen. Opal ist Pearls jüngste Schwester, die noch sehr naiv ist und sich ein Leben im Luxus wünscht und für ihr Leben gern tanzt, dann vergisst sie alles um sich herum. Sie fordert das Schicksal heraus und verliert dabei viel. Auch die anderen Protagonisten dienen auf die eine oder andere Weise als Untermalung der Handlung. Dabei bedient sich die Autorin auch vielen namhaften Personen, die es zu jener Zeit tatsächlich gegeben hat, was die Geschichte noch glaubwürdiger und realer wirken lässt.
„Die Musik der vergessenen Kinder“ ist eine in Worte gefasste Homage an den Jazz. Beim Lesen hat man die Musik im Ohr und scheint die Charaktere geradezu greifen zu können. Ein traumhaftes Kopfkino, wie man es besser nicht machen kann. Alle Liebhaber wunderschön erzählter Geschichten werden sich in dieses Buch verlieben. Absolute Leseempfehlung für ein echtes Highlight 2016. Einfach wunderbar!