Rezension

Jude wider Willen

Besetzte Gebiete -

Besetzte Gebiete
von Arnon Grünberg

Bewertet mit 4 Sternen

Mein Humor ist es keinesfalls und nie wieder rühre ich einen Roman dieses Autors an - aber interpretieren kann man ihn trefflich. In alle möglichen Richtungen.

Zuerst wollte ich als Rezensionsüberschrift „enfant terrible goes politics“ nehmen, aber der Autor ist sicherlich seit ewigen Zeiten politisch. Viel politischer als ich. Doch diese englisch-geschredderte Überschrift hätte angezeigt, welche beiden Komponenten im vorliegenden Roman zu erwarten sind. Einerseits ein schlimmes enfant terrible, das den Leser mit Igittsexdetails schockt, andererseits gilt es, einen politischen Roman zu entdecken. Der politische Teil ist allerdings verdeckt durch allerhand skurriles Personal, ja, manchmal tief vergraben. 

Wenn man den Roman gut besprechen will und nicht einfach nur „shocking“, „igitt“ schreit und wegrennt, sozusagen (k)eine innere Lese-Emigration stattfindet, dann muss man interpretieren. Und ein jeder Leser und eine jede Leserin wird ihre eigene Interpretation mitbringen, sie über das Buch legen oder sie sogar tatsächlich auf den Romanseiten finden. 

Vordergründig geht die Story so: angesehener Psychiater entschließt sich angesichts einer austherapierten Patientin zu einer ungewöhnlichen Therapieform, wird der Übergriffigkeit beschuldigt, verliert seinen Ruf und seine Approbation und wandert nach Israel aus. Auf Probe, wie Kadoke, unser Psychiater sich vormacht. 

Untergründig haben wir einen Juden, der sich als Nichtjude fühlt und völlig atheistisch lebt, in dessen Familie jüdische Geschichte kein Thema ist, man lebt gemütlich in den Niederlanden, man ist Niederländer von den Zehen bis zum Scheitel. Aber irgendwann in der Vita wird man als Jude, der man eben von Geburt an doch ist, ob man will oder nicht, mit dem Jüdischsein konfrontiert. Jude wider Willen. Nämlich dann, wenn man ein Paria wird. Wo soll man hin als Jude? Nach Israel. Mit anderen Worten, der jüdischen Herkunft kann man auf Dauer nicht entkommen. 

Szenenwechsel. Israel. Eine Siedlung im besetzten Gebiet. Hier wird Israel in Gestalt der Anat, Kadokes Urururgroßcousine, zur Hure. Kadoke spricht es einmal sogar aus. Dass Anat eine Urururgroßcousine ist, kommt nicht von ungefähr. Die jüdische Geschichte hat, wohin man schaut, immer tiefe Wurzeln, die weit weit weit zurückreichen. 

Anat, die ich mit Israel selbst gleichsetze, suhlt sich in der geschichtlichen Opferrolle, indem sie ihren Liebhaber dazu zwingt, beim Sex eine Kopfbedeckung der Nazis zu tragen. Das ist heftig. Das stößt ab. Nicht nur, weil im Zentrum des Romans eine andere, unerträglich sexistische Szene steht und das Frauenbild Grünbergs eventuell zu hinterfragen wäre, sondern auch von seiner politischen Aussage her. Nur ein jüdischstämmiger Schriftsteller darf so etwas schreiben. 

Die Mutter, gleichzusetzen mit den in der USA lebenden jüdischen Gemeinde, schaut penibelst, aber auch voyeuristisch auf das Geschehen, ist aber weit weg und hat keine Ahnung. Die hat nur Anat, also die vor Ort lebende Gemeinschaft. Die sich ganz folgerichtig mit einem Präventivschlag von ihren Verfolgern befreit, echten und vermeintlichen, ganz gleich, was für Opfer dafür erforderlich sind. Man muss das Eigene retten und bewahren. Kollateralschaden ist hinzunehmen. 

Dies ist eine Interpretation. Meine. Das Beste, was ich mir vorstellen kann. Das skurrile Personal lässt einen oft auflachen, zum Beispiel, wenn Kadokes alter, gebrechlicher Vater wieder und wieder den Sohn bittet „mach mich tot“. Aber das Lachen bleibt einem doch im Hals stecken und mündet schließlich in die Conclusio: es ist alles so vergeblich, so marode, es gibt keinen Ausweg, schon gar keine Lösung. Dennoch müssen wir weitermachen mit dem Leben. Einfach leben. Einfach weitermachen. 

Falls man nicht in eine irgendwie geartete, möglichst politische Interpretation einsteigt, bliebe nur zu sagen, ein abscheulicher Roman. Grotesk. Brutal. Vorführend. „Besetzte Gebiete“ ist ohne literarische oder politische Überhöhung untragbar. 

Es mache sind nun jeder selber ein Bild.  

Fazit: Als politischer Roman gesehen schildert „Besetzte Gebiete“ die jüdische desaströse Situation, spart aber nicht mit Kritik. Das dortige Lebensgefühl ist gut herausgearbeitet, von destruktiv bis unlösbar, deprimierend, dreckig. Aber lebendig! Und nicht totzukriegen: die Existenz Israels ist und bleibt ein Paradoxon. 

Kategorie. Satire. Politischer Roman
Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2021