Rezension

Jüdisches Leben im 20. Jahrhundert

Kantika -

Kantika
von Elizabeth Graver

Bewertet mit 5 Sternen

Literarische Entwicklung einer Autorin vom Feinsten!

Die Autorin liebt es, ihre Sujets in historische Gegebenheiten einzubinden, ohne jedoch gleich einen historischen Roman zu schreiben, sie bleibt ganz bei ihren Figuren.
Ich habe von Elizabeth Graver bereits „Der Sommer der Porters“ gelesen („The end of the point”) und hatte damals zahlreiche Kritikpunkte, weswegen meine Erwartungen gegenüber dem neuesten Roman von ihr, „Kantika“, nicht besonders hoch waren. Doch die Autorin hat, gemessen an ihren früheren Werken, literarisch sehr gewonnen. The end of the point ist eingebunden in das Geschehen des Zweiten Weltkrieges, „Kantika“ siedelt Elizabeth Graver nicht weit davon entfernt, aber deutlich früher an. Ihre Figuren agieren von 1907 bis 1950.
Die Person, die uns durch die Gesamtheit des Romans führt, ist Rebecca Baruch Levy, geborene Cohen. Sie ist die Tochter eines türkischen, wohlhabenden jüdischen Ehepaars, das in Istanbul zuhause ist. Der Vater ist nicht besonders begabt als Unternehmer und verspielt durch Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit einen Großteil des Vermögens. Trotzdem wird Rebecca ein Leben lang von den turbulenten Straßenszenen Istanbuls wie auch dem familiären Hintergrund einer funktionierenden Großfamilie zehren. Die Istanbuler Atmosphäre hat die Autorin mit schlichten Strichen hervorragend eingefangen.
Als die Zeiten für die jüdische Bevölkerung schlechter und gefährlicher werden, emigriert die Kernfamilie nach Spanien, Barcelona. Das ist ein erzwungener, den Umständen geschuldeter Umzug mit Verlusten: Menschen werden für immer zurück gelassen, das soziale Ansehen sinkt in den Keller, der Wohnraum wird beschränkter, das gewohnte Umfeld ist weg, das neue ganz anders und muss erst erobert werden. Es ist ein gesellschaftlicher Abstieg; der der Emigration zugeschrieben wird, aber der Vater Rebeccas gesteht sich ein, dass der finanzielle Niedergang vor allem zu seinen Lasten geht. In diesem Abschnitt lässt die Autorin tief in das Herz des Vaters blicken und liefert eine perfekte Charakterisierung eines zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerrissenen Menschen. Es dauert bis der alte Herr mit seinen Unzulänglichkeiten Frieden schließt. Ich mag ihn, er ist ein typischer gutmütiger, reicher Schlaffi, dessen angeborene Egozentrik durch das Patriarchat ungut verstärkt wurde, einer, der eigentlich nur das Leben genießen wollte, allerdings meint, dass ihm dies auch zusteht und nun gezwungen ist, kleine Brötchen zu backen und die Kehrschaufel selber in die Hand zu nehmen. Was er auch tut, bevor er wieder melancholisch auf dem Kanapee zusammenbricht. Gewisse Oblomowsche Züge sind nicht abzustreiten. Oblomow hätte sich freilich nie zu Gartenarbeit überwinden können, eine Tätigkeit, die Rebeccas alten Herrn tröstet. Und die Synagoge. Synagoge gehört zu jüdischem Leben wie Zucker in die Torte.
Die Familie macht trotz allem das Beste aus den Umständen, die Alten jammern nur heimlich. Naturgemäß kommen die Kinder am besten mit dem Neuen klar. Rebecca genießt Freiheiten, die sie als jüdisches Mädchen in der Türkei nicht hatte und wird Kleinunternehmerin mit fünf Angstellten, bevor es sie auf einigen Umwegen in die Staaten verschlägt. Dort ist sie äußerlich in Sicherheit vor den Schikanen und Verfolgungen durch die Nazis. Doch der Preis für ihr Glück ist hoch.

Der Kommentar:
Die Autorin arbeitet an dem Leben ihrer Großmutter entlang. Vielleicht ist sie deshalb den Figuren so nahe und vielleicht wirkt deshalb ihr Personal so authentisch.
Die Familie Cohen ist resilient. Das macht den Roman so sympathisch. Sie sind im Grunde genommen alle keine Helden, werden aber durch das Leben gezwungen, welche zu sein. Dabei geht es nicht ohne Verluste ab, was wiederum ein Plus auf dem Konto Authentizität ist. Rebecca verliert zweimal ihre Heimat und zweimal ihre Wurzeln. Sie muss mit zahllosen Schwierigkeiten kämpfen, an denen manche zerbrochen wären. Ihr Pragmatismus, mit dem sie sich durch widrigste Umstände kämpft, ist dennoch authentisch. Was ihr hilft, ist ein starker Glaube an Gott. Das jüdische Leben bleibt in ihrem Leben das Zentrum und tröstet sie. Sie bleibt aber weder vor Depressionen noch von persönlichen Erschütterungen verschont.
Die Einbettung in die Historie ist der Autorin bei „Kantika“ gelungen. Es sind dezente Verwebungen, die jedoch den Lebensweg erklären; zum Beispiel, dass Rebeccas Kinder, als sie erwachsen sind, für ihr neues Land in der amerikanischen Armee kämpfen, wie die Politik in Spanien die Juden in ein Schattenreich zwingt, etc. etc. Alles literarisch Unvorteilhafte, was ich Elizabeth Graver in „The end of the point“ ankreidete, hat sie in „Kantika“ ausgemerzt, es gibt nun eine gelungene Figurenführung, Entwicklung tiefer Charaktere, nachvollziehbare Motive und Handlungen, das Sprunghafte in der Erzählung ist verschwunden. Stilistisch war die Autorin schon immer gut. 

Fazit: Eine gelungene Erzählung jüdischen Lebens Anfangs- und Mitte des 20. Jahrhunderts, die mitunter ans Herz geht, aber nicht kitschig ist. Ich bin sehr angetan. 

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Mare, 2024