Rezension

Kleine Fluchten - für mich ganz große!

Kleine Fluchten -

Kleine Fluchten
von Carole Fives

"Und dann war die Wut gekommen. Warum gab der Vater des Kindes die Schlüssel nicht zurück, die Schlüssel, für die er seit Monaten keine Miete mehr zahlte? Glaubte er etwa, das hier wäre noch sein Zuhause?" (S.43)

Mir fehlen noch immer die Worte für dieses Buch, denn mir kommt all das, was die Frau und Mutter eines Sohnes erlebt hat, manches Mal vor, als wäre ich zurück in meine Vergangenheit katapultiert worden.

Carolin Fives bringt bildhaft rüber, wie die Frau durch die Gesellschaft eine Denunzierung erlebt, die schmerzt und die mich beim Lesen fassungslos gemacht hatte. Nicht nur von Menschen aus den sozialen Netzwerken, sondern auch von den Behörden erntete sie Unverständnis. Unverständnis, obwohl sie Hilfe gebraucht hätte. Eine freie Minute zum Atmen. Eine freie Stunde für ihren Job als Grafikdesignerin, um ihren Sohn und sich über Wasser zu halten. Alles schmerzt, haftet wie Billigkleber am Herzen und Vorwürfe die immer wieder predigen, dass andere das doch auch schaffen. Gutgemeinte Ratschläge, die nicht mal annähernd den Kern treffen - welche, bei denen sie sich wie vor den Kopf gestoßen fühlt. Durch den Alltag kämpfend versucht die junge Frau immer wieder Kraft zu schöpfen.

Dann eines Tages lässt sie die kleinen Fluchten zu. Sobald ihr Sohn schläft, entfernt sie sich einige Schritte von ihrer Wohnung - bis diese Schritte zu Kilometern werden. Gefährliche Kilometer, aber in ihrer Vorstellung muss es da doch mehr geben und vor allem die Erlaubnis, sich diese Auszeit zu gönnen. Eine, die sie nicht hat. Der Vater des Kleinen spurlos verschwunden und er wie eine Heftzwecke beißend an ihr. Immerzu versucht sie die Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen und hat sogar das Gefühl, und das konnte ich so gut nachvollziehen, dass sie eins mit dem Kinderwagen wäre. Dass das Ding zu ihr gehöre - ein Teil ihres Körpers. Alleingänge, Zeit für sich gibt es nicht. Das Kind steht an erster Stelle. Und so muss das auch, predigt die Gesellschaft, die andere Mütter in Foren denunziert. Was seien sie nur für schlechte Mütter! Wie könnten sie es wagen, an so etwas zu denken, andere wünschen sich seit Jahren ein Kind. Supermütter. Doch wie sind die Väter? Sind es nicht immerzu die Mütter, die sich fertigmachen, anstatt über den Tellerrand zu schauen und einer anderen Mutter unter die Arme zu greifen? Fehlanzeige.

Punkt für Punkt wird beschrieben, wie die Protagonistin sich fühlt. Wie sie ausbrechen will und nicht kann - es versucht. Es wird erzählt, dass Kindererziehung nicht den Happy-Sunshine-Filter trägt, sondern harte Arbeit ist und man mit Dingen konfrontiert wird, die manchmal nicht nur wehtun, sondern auch Spuren hinterlassen.