Rezension

Konto und Ehe am Ende - hilft Roulette?

Die Chance - Stewart O'Nan

Die Chance
von Stewart O'Nan

Bewertet mit 4 Sternen

Gemeinsam machen Marion und Art Fowler eine Pauschal-Busreise zu den Niagarafällen, wohin sie dreißig Jahre zuvor auch ihre Hochzeitsreise geführt hat. In ihrem Gepäck befindet sich ihr gesamtes restliches Barvermögen, denn Art – vor seiner Entlassung Versicherungsmakler, also mathematisch begabt – glaubt zu wissen, wie man beim Roulette gewinnen kann. Sie schmuggeln das Geld nach Kanada ein, wechseln es in Jetons und beziehen in einem Casino eine teure Hochzeitssuite, die sie sich leisten, weil es ja ohnehin egal ist. Arbeitslos und verschuldet, wie sie sind, haben sie nichts mehr zu verlieren. Das Haus, in dem ihre Kinder groß geworden sind, muss verkauft werden, ihre Ehe, von Seitensprüngen untergraben, steht vor dem Aus.Also greifen sie nach dem letzten Strohhalm: tagsüber beim Sightseeing an den spektakulären Wasserfällen, vor allem aber abends, im Casino. Sie spielen am ersten Abend und am zweiten. Und setzen alles auf eine Karte. (Verlagsseite) 

Sie sind am Ende. Nach 30 Jahren Ehe stehen Art und Marion sowohl vor dem Aus ihrer Beziehung als auch vor dem finanziellen Ruin. Die beiden Kinder leben eigenständig, die Arbeitsstellen sind verloren, ihr Haus kommt demnächst unter den Hammer, die Scheidung ist eingereicht.
Ein Kurztrip zu den Niagarafällen, wohin ihre Hochzeitsreise sie damals geführt hatte, soll irgendwas bewirken - eine neue Hinwendung zum Partner vielleicht? die Sanierung der Finanzen im Spielcasino? 
Art hat im Internet ein sicheres System gefunden, um das Roulett zu überlisten. 

O’Nan beschreibt nichts; er lässt einen Protagonisten reden und erzählt, wie der jeweils andere darauf reagiert. In Gedanken und Worten.
Genau SO sollte ein Autor Zwischenmenschliches „beschreiben“. Indem er das Feld ganz den Figuren überlässt, ihren Emotionen, Sorgen und Betrachtungen. 

Ein ernstes Thema, ernst zu nehmende Probleme, dennoch: Für den ironischen Ton ist gesorgt und zwar von Art und Marion selbst. Wenn einer genau weiß, was der andere jetzt denkt, und wenn er genau vorhersagen kann, was dieser als nächstes antwortet: Ergebnis einer jahrzehnte alten Ehe, ob sie nun tot oder lebendig ist. (Leser, die zu altgedienten Ehepaaren gehören, werden um den Wiedererkennungseffekt nicht herumkommen.) 

Die Schwächen des Buches liegen in den scheinbar endlosen Passagen, in denen Marion und Art sich dem Touristenstrom eingliedern (oder besser: von ihm mitgerissen werden oder gegen ihn ankämpfen) und hier etwas besichtigen, dort auf eine Plattform steigen, ein Restaurant suchen, ein Klo. Real, aber für Nigarafälle-Nicht-Kenner nicht so prickelnd. 

Originell und witzig die Kapitelüberschriften: Vom ersten Kapitel „Wahrscheinlichkeit, dass ein amerikanischer Tourist die Niagarafälle besucht: 1:195“ bis zum letzten „Wahrscheinlichkeit, dass ein geschiedenes Paar wieder heiratet: 1: 20480“ präsentiert O’Nan für jedes Kapitel eine passende statistische Zahl. Von Kapitel zu Kapitel wartet man darauf, was er in der nächsten Überschrift liefert.
Größenmäßig bewegt er sich von „Die „Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne aufgeht 1:1“ bis „Wahrscheinlichkeit zu überleben, wenn man ohne Fass die Niagarafälle hinabgespült wird: 1:1500000“. 

Ein Zwei-Personen-Roman, der sich lohnt. Vermutlich eher für (lang) Verheiratete als für Jüngere – für sie eher als abschreckendes Beispiel?
Allerdings: Niagarafälle? Niemals! Gegen diese Besuchermassen scheint Neuschwanstein wie eine Klosterruine auf einer Wiese irgendwo in der Eifel.