Rezension

Krank oder böse?

Das Böse - Reinhard Haller

Das Böse
von Reinhard Haller

Bewertet mit 4 Sternen

»Manchmal kann man die kalte Planung und die gefühllose Durchführung eines Gewaltverbrechens kaum glauben, oft erschauert man vor den grausig-sadistischen Fantasien, die sich hinter normalen menschlichen Fassaden zeigen. Im Schicksal vieler Täter, die selbst Opfer waren, kann man sehen, wie das Böse aus Bösem hervorgeht und der Kreislauf nie endet.«

Die Suche nach dem Bösen, nach seiner Kontur und seinen Wurzeln, bestimmt sein Leben. Reinhard Haller ist Psychiater und Psychotherapeut, als forensischer Gutachter untersucht er im richterlichen Auftrag die Persönlichkeit von Tätern. Bei den Gesprächen sitzt er mit inhaftierten Mördern und Schwerverbrechern aller Art in ihren Zellen und versucht zu ergründen, was zu der Tat geführt hat und vor allem, ob der Täter bei klarem Verstand gehandelt hat (er nennt es „mad oder bad“).

 

In diesem Buch fasst er seine Erkenntnisse zusammen und bezieht dabei diverse wissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien, medizinische und psychologische Untersuchungen ein. Vieles konnte schon erklärt werden, man konnte verschiedene Charaktertypen von Verbrechern erkennen und bestimmte Muster beschreiben. Es wird aber auch klar, dass sich nicht alles erklären lässt und manche Fragen offen bleiben.

 

Die Gliederung greift verschiedene Arten von Tätern bzw. Verbrechen auf. Da geht es u.a. um Sexualmorde, um Amokläufer an Schulen oder Gewalt in der Partnerschaft. Auch den Bereichen Amok, Terror und Massaker ist ein Kapitel gewidmet. Zunächst wird jeweils ein zum Thema passendes Verbrechen geschildert, manchmal im Verlauf des Abschnitts noch weitere ergänzt. Diese Schilderungen sind nur kurz, die kriminalistische Auseinandersetzung mit den Verbrechen ist nicht Thema des Buchs. Dann wird das Gespräch mit dem Täter analysiert, von ihm gemachte Aussagen zitiert. Weitere Untersuchungen und Analysen schließen sich an. Gab es vielleicht eine krankhafte Veranlagung? Milieueinflüsse oder traumatisierende Kindheitserlebnisse? Besonders stark wirken wohl Kränkungserlebnisse, das hebt der Autor mehrfach hervor. (An dieser Stelle: es gibt natürlich auch weibliche Täterinnen, die Mehrzahl ist jedoch männlich. Aus Vereinfachungsgründen habe ich mich daher hier auf „den Täter“ beschränkt.)

 

Fast durchgehend wirkt der Autor sehr professionell, wahrt Distanz, um seine Aufgabe als neutraler Sachverständiger auszufüllen. Mich hat es mehr als einmal richtig geschüttelt und ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass mir so etwas unmöglich gelingen würde. Natürlich erkenne ich, dass Täter nicht selten selbst Opfer waren, manchmal gelingt mir sogar Verständnis. Aber spätestens bei gefolterten Babys ist bei mir absolutes Ende. Reinhard Haller berichtet, dass selbst ihm an einzelnen Stellen die Wahrung der Distanz schwerfiel. Vielleicht eine Erklärung für einen Mord, der mit unsachlicher Opferperspektive geschildert wurde?

 

Beim Lesen darf man folglich nicht zu sensibel sein. Die Taten werden zwar nur kurz geschildert, aber es sind halt viele und oft besonders grausam. Außerdem drängen sich Fragen auf: Steckt das Böse möglicherweise auch in uns, in mir? Könnte es hervorbrechen? Und unter welchen Umständen? Die Möglichkeit ängstigt, denn wenn man ganz ehrlich ist, entdeckt man dunkle Stellen auch in sich. Böse Gedanken und Vorstellungen, Aggressivität… ja, die finde ich auch in mir. Die Frage ist nur, was man daraus macht. Sehr erschreckend fand ich in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zu einigen wissenschaftlichen Forschungen, die zeigten, wie leicht „ganz normale Menschen“ zu bösen Tätern werden können. Hier wird auch auf die Ausführungen der Holocaust-Forscherin Hannah Arendt verwiesen. Das löst sehr unangenehme Gedanken aus.

 

Zum Bösen und seinem Ursprung haben sich schon sehr viele Menschen Gedanken gemacht. Einige werden hier vorgestellt. Die philosophischen Betrachtungen, metaphysischen und psychoanalytischen Theorien waren mir dann teils zu theoretisch, aber die Komplexität und das Ausmaß, in dem Denker und Forscher sich mit der Thematik befass(t)en, unterstreicht seine Bedeutung.

 

Bei dem Buch handelt es sich um die aktualisierte Neuausgabe von „Das ganz normale Böse“ von 2009. In Anbetracht der Tatsache, was in den letzten zehn Jahren an Verbrechen geschehen ist, erscheint mir eine Aktualisierung durchaus sinnvoll und angebracht. Allerdings fände ich es in solchen Fällen generell besser und eindeutiger, den alten, ursprünglichen Titel beizubehalten.

 

Fazit: Krank oder böse? Eine oft sehr schwierige Unterscheidung! Ein interessantes und komplexes Thema, das unangenehme Fragen aufwirft.