Rezension

Leben, denke ich manchmal, heißt Staunen

Die Unvollkommenheit der Liebe - Elizabeth Strout

Die Unvollkommenheit der Liebe
von Elizabeth Strout

Bewertet mit 4.5 Sternen

Dieses Buch habe ich zuerst im amerikanischen Original gelesen. Sicher sind mir dabei so einige Feinheiten verloren gegangen - aber: Was für ein bewegendes Buch! Nun habe ich mit etwas Abstand noch einmal auf Deutsch vorgenommen, und siehe da, es hat nichts von seinem Zauber verloren.

Lucy liegt im Krankenhaus; nach einer Blinddarmoperation hat sie sich eine Infektion zugezogen, die die Ärzte nicht in den Griff bekommen. Sie vermisst ihre beiden kleinen Töchter und ihren Mann, sie ist einsam. Und plötzlich sitzt ihre Mutter an ihrer Seite, die sie seit Jahren nicht gesehen hat. Mutter und Tochter plaudern, erzählen von gemeinsamen Bekannten, von Verbindungen und Trennungen. Erinnerungen an Lucys Kindheit tauchen auf; die Familie war bitterarm und Lucy und ihre Geschwister wurden oft von den Klassenkameraden gehänselt und abgelehnt. Lucy hat sich herausgearbeitet; wegen ihrer guten schulischen Leistungen erhielt sie ein Stipendium, lebt mit ihrer Familie in New York und hat erste Erzählungen veröffentlicht. Sie erzählt von ihrem Krankenhausaufenthalt im Rückblick, Jahre später, und so mischen sich verschiedene Zeitebenen. 

Es ist ein Buch mit leisen Tönen; keine große Handlung, keine dramatischen Enthüllungen. Es lebt von den Zwischentönen, von Andeutungen und Unausgesprochenem. Lucy ist keine strahlende Heldin, sondern eine Frau, deren Selbstbewusstsein wacklig bleibt. Als Kind hat Lucy nicht nur Armut und Ausgrenzung erfahren, in ihrer Familie gab es auch keine Zärtlichkeit und über Gefühle wurde nicht gesprochen. Noch heute kann ihre Mutter nicht aussprechen, dass sie Lucy liebt. Umso wichtiger sind die kleinen Gesten: So hat der Vater einmal für Lucy einen kandierten Apfel gekauft, den sie dann aber mit ihrem kleinen Mund nicht essen konnte. Diese Episode steht symbolisch für so viele andere, in denen deutlich wird, dass jeder liebt, doch niemals genügt diese Liebe: "Because we all love imperfectly" (S. 107). Das Buch ist übersetzt unter dem Titel "Die Unvollkommenheit der Liebe"; passend. Lucy hat einen Mann, zwei Töchter, einige Freunde, viele Bekannte, doch im Inneren wirkt sie auf mich einsam. 

Das Buch hat mich tief angerührt; Erinnerungen an meine Kindheit wurden wach, Gedanken über meine eigene Liebe und deren Unvollkommenheit kamen auf. Ein bewegendes Leseerlebnis.